Quantcast
Channel: Uwe Müller – investigativ.de
Viewing all 70 articles
Browse latest View live

Ein Sieg für die Pressefreiheit

$
0
0

Ein Sieg für die Pressefreiheit

Die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam – in diesem Fall insgesamt mehr als fünf Jahre. Wenn am Ende allerdings ein großer Sieg für die Pressefreiheit steht, lässt sich die lange Dauer eines solchen Rechtsstreits verschmerzen.

Doch der Reihe nach: Am 15. August 2007 berichtete die „Welt“ unter der Überschrift „Stasi-Filz bei Gazprom“ über zwei Top-Manager der Deutschland-Tochter des russischen Energieriesen: den Personalchef Hans-Uve Kreher (er hatte der SED-Geheimpolizei unter den Decknamen „Roland Schröder“ und „Hartmann“ als Inoffizieller Mitarbeiter gedient) und den Finanzdirektor Felix Strehober (er arbeitete heimlich als sogenannter „Offizier im besonderen Einsatz“ für die Stasi).

Beide Führungskräfte der Gazprom Germania, die nicht zuletzt als Sponsor des Bundesligisten Schalke 04 bekannt ist, wollten daraufhin verhindern, dass die Wahrheit über ihre Vergangenheit öffentlich benannt werden darf. Deshalb schalteten sie die für ihre nicht gerade feinen Methoden bekannte Berliner Rechtsanwaltskanzlei Schertz Bergmann ein.

Einer der Mandanten der Kanzlei, Felix Strohober, versuchte daraufhin vor dem Landgericht Köln sogar, der „Welt“ mit einer offenkundig falschen Versicherung an Eides Statt einen Maulkorb zu verpassen. Wahrheitswidrig behauptete der Ex-Stasi-Offizier im September 2007, er sei „niemals Angestellter oder sonst wie hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit“ gewesen. Nachdem die „Welt“ in dem Verfahren umfangreiche Dokumente aus der Stasi-Unterlagen-Behörde vorgelegt hatte, aus denen das glatte Gegenteil hervorgeht, wurde die Staatsanwaltschaft aktiv. Sie leitete gegen Strehober ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung ein. Stellt sich rückblickend die Frage, warum die Kanzlei Schertz Bergmann dem Gazprom-Manager damals nicht dringend davon abgeraten hat, dem Gericht eine solche Erklärung vorzulegen. Schließlich war dessen Verstrickung mit dem früheren SED-Geheimdienst offenkundig. Zwar wurde das Verfahren gegen Strehober im Oktober 2008 eingestellt, allerdings erst, nachdem dieser einen hohen Geldbetrag bezahlt hatte. Selbstverständlich berichtete die „Welt“ auch darüber.

Das missfiel Strehober ebenfalls. Nun verlangte er von dem Online-Portal der „Welt“, eine Meldung über das Ermittlungsverfahren für immer zu löschen. Eine seiner Begründungen: Die Sache mit der falschen eidesstattlichen Versicherung falle ja nicht in den Bereich der schweren Kriminalität, auch sei er deshalb nicht rechtskräftig verurteilt worden. Doch mit diesem Argument verlor Strehober im August 2011 einen Prozess vor dem Landgericht Hamburg. In der nächsten Instanz, vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht, unterlag dann die „Welt“ im November 2011. Jetzt hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes das letzte Wort gesprochen – und mit seinem Urteil, so sieht es die Nachrichtenagentur dapd, „die Pressefreiheit im Internet gestärkt“. Der BGH schreibt in seiner Pressemitteilung zu der Entscheidung: Die „Welt“ habe „wahrheitsgemäß und sachlich ausgewogen über die Einleitung und die Hintergründe des Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger berichtet“. Der Artikel setze sich kritisch mit der Frage auseinander, wie Strehober „mit seiner Stasi-Vergangenheit umgeht“ und leiste „damit einen Beitrag zur Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Nachtrag: Bereits bei ihrer ersten Veröffentlichung im August 2007 wollte die „Welt“ von Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wissen, was er vom Stasi-Filz im Gazprom-Reich hält. Schließlich bekleidete Schröder den Posten des Vorsitzenden des Aktionärsausschusses der Gazprom-Mehrheitsbeteiligung Nord Stream, die die sogenannte Ostsee-Pipeline baut. Damaliger Geschäftsführer unter Schröders Aufsicht: der Ex-Stasi-Auslandsagent Matthias Warnig. Der Altbundeskanzler richtete unserer Redaktion seinerzeit lediglich aus: „Gegen die Verbreitung von Unwahrheiten wird er sich gerichtlich zur Wehr setzen.“

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog


124 Schalter zu wenig am neuen Berliner Airport

$
0
0

124 Schalter zu wenig am neuen Berliner Airport

Der neue Flughafen Berlin-Brandenburg ist für die Zukunft viel zu klein angelegt. Ein Gutachten ergab, dass er schon kurz nach der verschobenen BER-Eröffnung an seine Kapazitätsgrenzen stoßen wird.

Von M. Lutz, G. Mallwitz, U. Müller, V. Solms

Der neue Flughafen BER wird nach seiner Eröffnung nicht in der Lage sein, das erwartete Passagieraufkommen zuverlässig abzuwickeln. Derzeit sind rund 120 Check-In-Schalter vorgesehen. Im Vergleich zu anderen Flughäfen wären aber 224 Schalter notwendig.

Das gleiche Problem gibt es in der Gepäckhalle des künftigen Hauptstadtflughafens. Dort stehen nur acht Gepäckbänder für die Koffer der Fluggäste bereit, erforderlich wären aber 20 Ausgabebänder.

Das soll nach Informationen der “Welt” aus einem Gutachten hervorgehen, das der Flughafenexperte Dieter Faulenbach da Costa im Auftrag der Brandenburger CDU-Fraktion erstellt hat.

Die Planungsmängel im BER  sind demnach so gravierend, dass “die Servicestandards unter denen von Tegel liegen werden”. Eine ordnungsgemäße Passagierabfertigung sei “nicht möglich”. Ein grundlegendes Problem laut Gutachten: “Erhebliche Engpässe in der Gepäckabfertigung und der Gepäckverladung”. Das würde zu erheblichen Verspätungen am Großflughafen beitragen und den BER zu einem der “unpünktlichsten Flughäfen Deutschlands” machen.

Bald nach der Eröffnung 27 Millionen Passagiere

Der BER wird nach derzeitigen Schätzungen schon bald nach seiner Eröffnung rund 27 Millionen Passagiere befördern. Angesichts der knappen Kapazitäten beim Service ist der Flughafen nach Ansicht des Experten nur in der Lage, bis zu 17 Millionen Fluggäste “weitgehend störungsfrei” abzufertigen. Bei einer so geringen Passagierzahl würde sich der Airport allerdings betriebswirtschaftlich nicht rechnen.

Obwohl der BER mit der Inbetriebnahme weitgehend ausgelastet sein wird, verfügt er offenbar nicht über die bei Neubauten üblichen Reservekapazitäten. Folglich könne er kein weiteres Wachstum verkraften und sich nicht zu einem internationalen Drehkreuz entwickeln.

Das Gutachten soll demnach zu dem Schluss kommen, dass der BER als einziger Großflughafen für Berlin und Brandenburg nicht den Anforderungen gewachsen ist. Möglicherweise müsse der alte Flughafen Schönefeld weiterhin genutzt werden. Weder der Experte noch die Brandenburger CDU wollten sich zu dem Gutachten äußern.

Landtagsfraktion diskutiert die Studie

Die brandenburgische CDU, die in der Landtagsfraktion über die Expertise beraten will, dürfte sich in ihrer Position bestätigt sehen. In ihrer vom Landesvorstand verabschiedeten “Potsdamer Erklärung” hatte die Union sich schon für eine “Abkehr vom Single-Airport-Konzept” ausgesprochen.

Wie aus einer Antwort der Senatskanzlei auf eine Anfrage der Berliner Abgeordneten Jutta Matuschek (Linke) hervorgeht, hat die Flughafengesellschaft bei Generalunternehmern nachträgliche teure Leistungen in Auftrag gegeben. Sie übersteigen die ursprüngliche Vergabesumme zwischen fünf und 50 Prozent.

Zudem liegt inzwischen auch eine Antwort von Berlins Regierenden Bürgermeister zu einer möglichen Haftung der Manager und Aufsichtsräte der Flughafengesellschaft vor. Diese haben sich demnach gegen Schäden pro Person mit jährlich 30 Millionen Euro versichern lassen.

Alter Flughafen in Schönefeld soll weiter genutzt werden

Das Gutachten soll demnach zu dem Schluss kommen, dass der BER als einziger Großflughafen für Berlin und Brandenburg nicht den Anforderungen gewachsen ist. Möglicherweise müsse man den alten Flughafen Schönefeld mitnutzen.

Zudem liegt inzwischen eine Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Piraten-Fraktion vor, die der Regierende Bürgermeister und Flughafen-Aufsichtsratschef Klaus Wowereit (SPD) beantwortete. Aufsichtsräte und Manager der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH (FBB) haben sich demnach gegen Schäden in zweistelliger Millionenhöhe versichern lassen.

Dazu gehören Wowereit und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) als stellvertretender Aufsichtsratschef, sowie die Geschäftsführer und Bereichsleiter der Airport GmbH. Die Versicherungssumme beträgt pro Person jährlich “30 Millionen Euro”. Laut Wowereit sind “zwei Versicherer in Form eines Konsortiums” eingeschaltet. Die Berliner Flughafengesellschaft benötigt aktuell eine Finanzspritze in Höhe von 1,2 Milliarden Euro.

http://www.welt.de/wirtschaft/article111531619/124-Schalter-zu-wenig-am-neuen-Berliner-Airport.html

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Horror-Gutachten für Klaus Wowereit

$
0
0

Horror-Gutachten für Klaus Wowereit

Die Politik ist ein schlechter Bauherr. Wie zutreffend diese Erkenntnis ist, lässt sich derzeit in Berlin und Brandenburg besichtigen. Dort wollten die Regierungschefs Klaus Wowereit und Matthias Platzeck (beide SPD) beim Bau des neuen Großstadtflughafens beweisen, dass „öffentliche Eigentümer so ein Projekt bauen können“. Das Ergebnis ist bekannt: Schon drei Mal musste der Eröffnungstermin verschoben werden, die Kosten sind um mehr als Doppelte auf aktuell 4,2 Milliarden Euro explodiert. Weltweit wird deshalb bereits über die Deutschen gespottet: Das Land der Ingenieure sei ganz offenbar nicht mehr in der Lage, Großprojekte zu meistern. Alles nur billige Schadenfreude? Schön, wenn es so wäre.

Jetzt hat der renommierte Flughafenplaner Dieter Faulenbach da Costa aus Hessen im Auftrag der Brandenburger CDU-Landtagsfraktion ein brisantes Gutachten zum künftigen Hauptstadt-Airport vorgelegt. Es zeigt: Um das Milliardenprojekt ist es offenbar noch viel schlimmer bestellt als bisher bekannt. Nach der Analyse des Experten Faulenbach da Costa ist die derzeit größte Infrastrukturinvestition Ostdeutschlands eine desaströse Fehlplanung, die den Steuerzahler in den kommenden Jahren noch teuer zu stehen kommen wird.

Die „Welt“-Gruppe hat zuerst exklusiv über das Gutachten berichtet. Das Investigativ-Team der Redaktion hat sich dazu entschlossen, die 76 Seiten hier an dieser Stelle ins Netz zu stellen, damit Sie sich selbst eine Meinung bilden können. Wäre die Sache nicht so ärgerlich, könnte man sagen: Viel Spaß bei der Lektüre!

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Wowereits Fiasko

$
0
0

Wowereits Fiasko

Als das Flughafenprojekt der Hauptstadt erstmals ins Trudeln geriet, versprach Berlins Regierender Bürgermeister volle Transparenz. Jetzt vertuscht er, wo er nur kann. Als Landeschef ist er damit nicht länger tragbar

Von Uwe Müller

Klaus Wowereit mag es gern schnoddrig. Als erste Zweifel aufkamen, ob der künftige Hauptstadtflughafen pünktlich in Betrieb gehen würde, behauptete der Regierende Bürgermeister im Berliner Abgeordnetenhaus, alles laufe nach Plan. Den Skeptikern auf den Oppositionsbänken rief der Sozialdemokrat zu, sie sollten sich damit abfinden, dass er selbst den Airport feierlich eröffnen werde. “Dann können Sie jetzt schon Ihren Anzug dafür bügeln”, spottete Wowereit und hatte die Lacher auf seiner Seite. Das war im April 2010. Zwei Monate später stand fest: Der für Oktober 2011 anberaumte Festakt fällt aus, die Garderobe konnte im Schrank bleiben.

Seitdem hat sich das prestigeträchtigste Großprojekt Deutschlands zu einem Skandal ohne Ende entwickelt. Immer wieder musste das Datum der Inbetriebnahme verschoben werden: erst auf Juni 2012, dann auf März 2013 und schließlich auf Oktober 2013. Jetzt wackelt auch der fünfte Termin. Und erneut wird das Geld knapp. Dabei mussten die Gesellschafter – die Länder Berlin und Brandenburg sowie der Bund – erst jüngst ihre Parlamente um einen üppigen Nachschlag in Höhe von 1,2 Milliarden Euro bitten. Das dürfte trotzdem nicht reichen. Es wäre eine gewaltige Überraschung, wenn die anfangs mit zwei Milliarden Euro kalkulierte Investition nicht schon bald die Fünf-Milliarden-Marke nehmen würde. Auch bei dem Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 und der Elbphilharmonie in Hamburg sind Kosten und Termine völlig aus dem Ruder gelaufen. Solche Fehleinschätzungen führen zu einem Verlust an Vertrauen in die Politik. Der Staat versagt, der Steuerzahler haftet: Die Bürger fühlen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass die öffentliche Hand ein schlechter Bauherr ist.

In der aktuellen Pannenserie der Großprojekte ragt das Berliner Debakel allerdings in besonderer Weise hervor. Denn dort wird anders als in Stuttgart und Hamburg auf der grünen Wiese gebaut, was Planung und Bauausführung üblicherweise erheblich erleichtert. Außerdem gibt es mit Hochtief in Deutschland einen erfahrenen Flughafenbauer, hier aber wollte es Wowereit selbst machen. Hinzu kommt, dass ein Misserfolg in der Hauptstadt der wichtigsten europäischen Volkswirtschaft für eine ganz andere Aufmerksamkeit sorgt. Das Versagen im Land der Ingenieure wird weltweit hämisch kommentiert. Darunter hat das Image des Standortes D gelitten. Was freilich das größte Ärgernis an der ganzen Sache ist: Der Airport mit dem internationalen Code BER  und dem Beinamen Willy Brandt entpuppt sich zunehmend als grandiose Fehlplanung. Darin besteht das eigentliche Drama.

Mit den Details dieses Trauerspiels kennt sich Wowereit bestens aus, schließlich ist er Chef des Aufsichtsrates der Flughafengesellschaft. Der Politiker weiß, dass der zunächst auf 27 Millionen Passagiere ausgelegte BER mit seiner Inbetriebnahme schon an der Kapazitätsgrenze angelangt sein wird. Auf den alten Berliner Flughäfen in Tegel und Schönefeld, die mit der Eröffnung der künftigen Anlage geschlossen werden, sind 2011 bereits 24 Millionen Fluggäste gezählt worden. Im laufenden Jahr zeichnet sich ein Plus von rund 1,3 Millionen Passagieren ab. Überall auf der Welt werden neue Flughäfen von Anfang an so konzipiert, dass sie das steigende Verkehrsaufkommen der nächsten zehn bis 15 Jahre bewältigen können. Berlin tickt da anders, dort ist solche Vorsorge unterblieben. Deshalb müsste unverzüglich mit Planungen zur Erweiterung des Terminals begonnen werden. Davor aber schreckt Wowereit aus Gründen der politischen Opportunität zurück. Solange BER nicht startklar ist, hält er eine Debatte über weitere kostspielige Investitionen für nicht vermittelbar. Dadurch geht wertvolle Zeit verloren. Welche Folgen das haben wird, ist schon heute so gut wie gewiss: Dem Chaos beim Bau des Flughafens wird alsbald ein Chaos beim Betrieb des Flughafens folgen. Der Blick in die weitere Zukunft fällt ebenfalls ernüchternd aus. Denn BER verfügt lediglich über zwei Start- und Landebahnen. Platz für eine weitere Piste gibt es nicht. Deshalb wird der Hauptstadtflughafen selbst nach einem Ausbau nur für 35 bis 40 Millionen Passagiere ausreichen. Diese Größenordnung könnte bereits in zwölf Jahren erreicht sein. Und was ist dann?

Ist in der Wirtschaft erst einmal ein Problem identifiziert, wird nach pragmatischen Lösungen gesucht. Das ist allein deshalb nötig, um im Wettbewerb bestehen zu können. In der Politik gilt in aller Regel eine andere Logik: Die Lage wird schöngeredet. Dabei hatte Wowereit noch im Vorfeld der ersten Verschiebung des Eröffnungstermins gegenüber den Abgeordneten des Abgeordnetenhauses seine Bereitschaft bekundet, Rechenschaft abzulegen und volle Transparenz versprochen. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Der Presse werden Auskünfte zum BER-Desaster vorenthalten. Der vom Berliner Parlament eingesetzte Untersuchungsausschuss erhält nur zögerlich Einsicht in Akten. Und erst jetzt werden auf Druck des Bundes als Minderheitsgesellschafter unabhängige Gutachter eingeschaltet. Sie sollen prüfen, ob Management und Mitglieder des Aufsichtsrates für den eingetretenen Schaden haftbar gemacht werden können.

Wowereit weigert sich strikt, selbst politische Verantwortung zu übernehmen. Geradezu trotzig behauptet er, das Projekt sei ein Erfolgsgarant für die gesamte Region. Das Gegenteil ist der Fall. Berlin ist nach wie vor ein ökonomisch rückständiger Teil Deutschlands. Zwar gibt es einige Lichtblicke. In den vergangenen Jahren sind neue Jobs entstanden, die Einwohnerzahl steigt, immer mehr Touristen kommen. Aber nach wie vor muss der Stadtstaat so umfangreich alimentiert werden wie kein anderes Bundesland. Berlin hängt am Tropf der Solidargemeinschaft. Angesichts dieser Abhängigkeit, die auch eine Folge der deutschen Teilung ist, muss die Hauptstadt jede sich bietende Möglichkeit optimal nutzen. Mit einem so bedeutenden Infrastrukturprojekt wie dem Flughafen hätte man verlorenes Terrain zurückgewinnen können. Diese Chance wurde vertan. Und dieses Fiasko verbindet sich mit dem Namen von Klaus Wowereit. Der dienstälteste deutsche Länderchef sollte sich nicht länger wegducken. Im Roten Rathaus wird keiner benötigt, der eigene Fehler kleinredet, sondern einer, der zum Wohl des Landes Berlin mit Hochdruck nach Lösungen für das verfahrene Flughafenprojekt sucht.

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

“Die Russen sind da sehr dreist”

$
0
0

“Die Russen sind da sehr dreist”

Im spektakulärsten Spionagefall seit der Wiedervereinigung spekuliert die Verteidigung mit einem kurzen Prozess. Den mutmaßlichen russischen Spionen drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Von Uwe Müller und Lars-Marten Nagel

Der Sitzungssaal 18 liegt in einer der hintersten Ecken des Stuttgarter Oberlandesgerichtes (OLG). Hier werden ab Dienstag fünf Berufsrichter unter dem Vorsitz von Sabine Roggenbrod einen Spionagefall aufrollen, den sich ein Schriftsteller kaum besser hätte ausdenken können.

In dem Staatsschutzverfahren wird dann ein Stoff ausgebreitet, der ungewöhnlich tiefe Einblicke in das Milieu und die Methoden der Geheimdienste gestattet. Es ist ein Stoff, der von toten Briefkästen, konspirativen Treffen und verschlüsseltem Agentenfunk handelt. Und der an die finstersten Zeiten des Kalten Krieges erinnert.

Angeklagt ist ein Ehepaar, dem geheimdienstliche Agententätigkeit in einem besonders schweren Fall vorgeworfen wird. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug. Beide Eheleute sollen Offiziere des russischen Auslandsgeheimdienstes Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR) sein, dem Nachfolger der Ersten Hauptabteilung des berüchtigten KGB.

Sie wurden bereits vor der Wiedervereinigung, als sie noch Sowjetbürger waren, nach Deutschland geschleust, getarnt als in Lateinamerika geborene Österreicher. Allein diese kunstvoll gestrickte Legende dürfte den 4b. Strafsenat des OLG Stuttgart mehrere Verhandlungstage beschäftigen.

Offenbar korrupter Diplomat half dem Paar

Im Zentrum des Prozesses wird aber die Schwere des Verrats stehen. Laut der 137 Seiten starken Anklageschrift, die vom Generalbundesanwalt unterzeichnet ist und dieser Redaktion vorliegt, soll das Agentenpärchen einen europäischen Spionagering geleitet sowie politische und militärische Geheimnisse von EU und Nato ausgekundschaftet haben.

Im Sommer 2011 gelangten sie beispielsweise an einen geheim eingestuften Bericht von Generalmajor Mark F. Ramsay aus dem Obersten Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Europa. Darin erläutert Ramsay den aktuellen Stand von Nato-Militäroperationen in Afghanistan, Libyen und im Kosovo.

Dieses und Hunderte andere Dokumente beschaffte dem Agentenpaar Anschlag offenbar ein korrupter niederländischer Diplomat: Raymond Poeteray, der als Beamter des Außenministeriums in Den Haag Zugang zu brisantem Material hatte.

Er soll sich im Zeitraum von 2008 bis 2011 bis zu 30 Mal mit Andreas Anschlag getroffen und für seine Dienste mindestens 72.200 Euro kassiert haben. Poeteray muss sich gesondert in den Niederlanden vor Gericht verantworten.

Material in toten Briefkästen deponiert

Das in Empfang genommene Verratsmaterial deponierte Anschlag offenbar in toten Briefkästen, wo es nach Erkenntnissen der deutschen Sicherheitsbehörden von Mitarbeitern des russischen Generalkonsulats in Bonn abgeholt wurde.

In Deutschland genießen fast 400 Russen diplomatische Immunität. Jeder dritte von ihnen, so schätzen die Sicherheitsbehörden, ist in die Spionage eingebunden. “Die Russen sind da sehr dreist”, sagt ein hochrangiger Beamter.

Nach außen führten Andreas und Heidrun Anschlag ein bürgerliches Leben, zuletzt in einem Einfamilienhaus im hessischen Marburg-Michelbach. Er (Deckname “Pit”, SWR-Abteilungsleiter) arbeitete bei einem Autozulieferer, sie (“Tina”, stellvertretende SWR-Abteilungsleiterin) war Hausfrau.

Doch “Tina” soll sich auch um die Kommunikation mit der Moskauer Zentrale gekümmert haben. Jeden Dienstag gegen sechs Uhr morgens saß sie vor einem Kurzwellenempfänger und nahm Weisungen aus der Heimat entgegen.

Gemeinsame Prozessstrategie

“Pit” wiederum führte nicht nur Quellen, sondern besuchte auch zahlreiche Veranstaltungen von politischen Stiftungen. Dort hörte er aufmerksam zu und lernte einflussreiche Persönlichkeiten kennen. Einige von ihnen, beispielsweise einen ehemaligen Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und einen Spitzenbeamten der Bundeswehrverwaltung, “tippte” er: Der SWR solle versuchen, die Genannten anzuwerben.

Im Sitzungssaal 18 des OLG Stuttgart werden sich Andreas und Heidrun Anschlag erstmals seit langer Zeit wieder in die Arme nehmen können. Denn seit ihrer Festnahme am 18. Oktober 2011 saßen sie getrennt in Untersuchungshaft. Ein Treffen lehnte das Gericht ab, um Absprachen zu vermeiden.

Eine gemeinsame Prozessstrategie gibt es trotzdem. Andreas Anschlags Strafverteidiger, der Münchner Rechtsanwalt Horst-Dieter Pötschke, sagte der “Welt”: “Weder mein Mandant noch seine Ehefrau werden sich zu den Tatvorwürfen äußern. Sie werden auch keine Angaben zur Person machen, denn dann müssten sie ja ihre wahren Namen preisgeben.”

“Anwalt der Spione”

Pötschke trägt ebenfalls dazu bei, dass der Stuttgarter Prozess eine spezielle Note haben wird. Der 73-Jährige gilt als “Anwalt der Spione” und hat in seiner Karriere bereits rund zwei Dutzend KGB- und Stasi-Agenten verteidigt. Das war allerdings in einer Zeit, als der Eiserne Vorhang noch Europa teilte.

Zu seinen Mandanten zählte damals auch der berühmte Kanzlerspion Günter Guillaume, dessen Enttarnung zu Willy Brandts (SPD) Rücktritt führte. Pötschke wird nachgesagt, dass er nicht nur zu Agenten, sondern auch zu deren Arbeitgebern einen guten Draht hat.

Im Kern bestreitet Pötschke den Tatvorwurf nicht. Er erwartet eine Verurteilung. “Meinem Mandanten ist an einer Abkürzung des Prozesses gelegen”, sagt er. Dabei ist das Verfahren bereits bis Juni terminiert. 31 Verhandlungstage sind vorgesehen, zahlreiche Zeugen geladen. Pötschke hofft, dass dieser Aufwand reduziert werden kann. Er kündigt an: “Die Verteidigung wird eine Verständigung mit den Prozessbeteiligten über das Strafmaß anstreben.”

Allerdings ist ein Deal höchst unwahrscheinlich. Zwar ermöglicht die Strafprozessordnung eine solche Verständigung der Parteien auf ein reduziertes Strafmaß. Ein Nachlass wird aber nur dann gewährt, wenn die Täter ein glaubwürdiges Geständnis ablegen. “Ein Geständnis wird es nicht geben”, sagt Pötschke. Es würde sich auch nicht mit der Agentenehre vertragen.

Mehr als 40 Ordner mit Beweisergebnissen

Dass die Anschlags derartig lange unentdeckt in der Bundesrepublik spionieren konnten, dürfte ziemlich einmalig sein. Erst im ersten Halbjahr 2011 lieferte ein amerikanischer Dienst den deutschen Behörden den entscheidenden Hinweis, der zur Enttarnung von Andreas und Heidrun Anschlag führte. Zunächst observierte die Spionageabwehr des Bundesverfassungsschutzes die Verdächtigen.

Nach ihrer Festnahme übernahm dann das Bundeskriminalamt die Ermittlungen. Die Fahnder entdeckten auf den Computern des Ehepaars eine Vielzahl von Dateien, mit denen sie zwei Jahre Agententätigkeit fast lückenlos rekonstruieren konnten. Mehr als 40 Ordner umfassen die Beweisergebnisse. Solche Erfolge sind selten.

Gleichwohl fehlen Erkenntnisse über die Zeit davor. “Wir haben leider nur zwei von 20 Jahren”, sagt ein leitender Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde. Er vermutet, dass das Ehepaar Anschlag weitere Spitzenquellen wie den niederländischen Diplomaten geführt hat. Für eine Verurteilung dürften die vorliegenden Erkenntnisse dennoch reichen.

Hoffen auf Austausch

Dabei wäre es fast nicht zu dem Spionageprozess gekommen. Wie die “Welt am Sonntag” im Oktober berichtete, strebte die Bundesregierung einen Agententausch an.

Sie wollte die jetzt Angeklagten gegen zwei in Russland inhaftierte Spione tauschen. Bei ihnen handelt es sich nicht um Deutsche, sondern um Russen, die für den Nachrichtendienst eines Bündnispartners von Deutschland gearbeitet haben sollen. Doch die Russen ließen den Tausch platzen. Mögliches Motiv: Nur durch einen Prozess kann der SWR in Erfahrung bringen, was die Gegenseite herausgefunden hat.

Zu den diskreten Verhandlungen mit Moskau schweigt die Bundesregierung bis heute. Der “Welt” aber bestätigt Verteidiger Pötschke erstmals, dass es solche Pläne gab. “Für meinen Mandanten war es enttäuschend, dass der im Herbst im Raum stehende Agententausch nicht zustande kam”, sagte der Jurist. “Andreas Anschlag gibt aber die Hoffnung nicht auf, dass ein solcher Austausch nach einem Urteil möglich ist.”

Der Text auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Putins Wunderkinder auf der Anklagebank

$
0
0

Putins Wunderkinder auf der Anklagebank

Es ist der spektakulärste Spionageprozess seit dem Ende des Kalten Krieges: Ab Dienstag dieser Woche müssen sich die russischen Agenten mit den Aliasnamen Andreas und Heidrun Anschlag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verantworten. Das Ehepaar wurde noch vor der Wiedervereinigung vom damaligen KGB nach Deutschland geschleust, getarnt als Österreicher, die ihre Kindheit in Lateinamerika verbracht hatten.

Mit Schild und Schwertern: So sieht sich der russische Auslandsgeheimdienst SWR.

Mit Schild und Schwertern: So sieht sich der russische Auslandsgeheimdienst SWR in seinem Wappen selbst.*

Am 18. Oktober 2011 wurde das Ehepaar festgenommen. Fast auf den Tag genau ein Jahr danach berichtete die “Welt am Sonntag” exklusiv, dass die Bundesregierung versucht hatte, die hauptamtlichen Mitarbeiter des russischen Auslandsgeheimdienstes gegen zwei in Russland inhaftierte Spione auszutauschen. Involviert in die streng geheimen und letztlich gescheiterten Verhandlungen war ein Münchener Strafverteidiger, der sich bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs den Ruf als „Anwalt der Spione“ erworben hatte. Er ist inzwischen 73 Jahre alt und nach wie vor äußerst engagiert.

Das Investigativteam der “Welt” hat den Fall seit mehr als einem Jahr recherchiert. Jetzt tritt er in ein neues Stadium. Deshalb hier die wichtigsten Fragen und Fakten zum Stuttgarter Spionageprozess.

Wer hat das Agentenpaar angeklagt?
Weil der Verrat als gravierend gilt, hat die Bundesanwaltschaft den Fall an sich gezogen und das Bundeskriminalamt mit den Ermittlungen beauftragt. Die 137 Seite starke Anklageschrift, die dieser Redaktion bereits seit Oktober vorliegt, hat Generalbundesanwalt Harald Range persönlich gezeichnet. Deutschlands oberster Ankläger wird jedoch nicht im Gerichtssaal anwesend sein. Dort wird die Anklage von den Bundesanwälten Rolf Hannich und Wolfgang Siegmund vertreten.

Weshalb sind Andreas und Heidrun Anschlag angeklagt?
Dem Ehepaar wird geheimdienstliche Agententätigkeit in einem besonders schweren Fall vorgeworfen (StGB § 99) vorgeworfen. Ein besonders schwerer Fall liegt dann vor, wenn durch die Tat die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt wurde. Als Höchststrafe sieht das Strafgesetzbuch einen Freiheitsentzug von bis zu zehn Jahren vor. Die Bundesanwaltschaft erwägt sogar, den Vorwurf auf Landesverrat auszudehnen (StGB § 94). Dabei geht es um den Verrat von Staatsgeheimnissen, in besonders schweren Fällen ist sogar eine lebenslängliche Strafe möglich. Dazu stehen allerdings noch Gutachten aus. Weil Andreas und Heidrun Anschlag in Deutschland unter falschem Namen auch Rechtsgeschäfte abgeschlossen, wie beispielsweise ein Auto zu finanzieren, wird  ihnen zudem mittelbare Falschbeurkundung zur Last gelegt (StGB § 271).

Der russische Auslandsgeheimdienst feiert sich im Jahr 2012 selbst. 90 Jahre zuvor baute die Sowjetunion einen Auslandsnachrichtendienst auf. Im Bild der damalige Präsident Dmitri Medwedew (links) und der aktuelle SWR-Direktor Michail Fradkow.

Der russische Auslandsgeheimdienst feiert sich im Dezember 2010 selbst. Genau 90 Jahre zuvor hatte die Sowjetunion damit begonnen, ihren Auslandsnachrichtendienst aufzubauen. Im Bild sind der damalige Präsident Dmitri Medwedew (links) und der aktuelle SWR-Direktor Michail Fradkow.

Wie umfangreich war der Verrat?
Das Agentenpärchen hat in den Niederlanden einen Mitarbeiter des dortigen Außenministeriums als Quelle geführt, der allein Hunderte als geheim eingestufte Dokumente von NATO und EU beschafft hat. Das Material ist hochsensibel, darunter befinden sich etwa:

  • Berichte über Sitzungen des Nordatlantikrates zur Libyenkrise im Sommer 2011
  • Ein Bericht über die Zusammenarbeit der NATO mit Russland im Bereich der Raketenabwehr aus dem Mai 2011
  • Mehrere Dokumente über Strukturreformen der NATO
  • Ein Sonderbericht von Juli 2011 über die EU-Polizeimission Eulex im Kosovo nach gewalttätigen Auseinandersetzungen
  • Der Wochenbericht der EU-Beobachtermission in Georgien aus dem Juli 2011 zur Sicherheitslage entlang der Grenzen zu Abchasien und Südossetien

Das NATO Office of Security sieht einen beträchtlichen Schaden, auch in Brüssel ist man über den Verrat wenig amüsiert.

Von wem wird das Agentenpaar verteidigt?
Andreas Anschlag wird von dem Münchener Anwalt Horst-Dieter Pötschke und dessen Bekanntem Johannes Hoffmann verteidigt. Pötschke, heute 73 Jahre alt, hatte schon im Kalten Krieg um die 20 KGB- und Stasi-Agenten verteidigt und gilt deshalb als „Anwalt der Spione“. Gut möglich, dass er die Prozessstrategie mit der russischen Seite erörtert hat.  Heidrun Anschlags Anwalt ist der Marburger Strafverteidiger Peter Thiel, der von seiner Kanzleimitarbeiterin Nadine Nitz unterstützt wird.

Wie werden sich die Angeklagten in dem Verfahren verhalten?
Das Ehepaar will in dem Prozess keinerlei Angaben machen, nicht einmal zu ihrer Person. Anwalt Pötschke, der mit einer Verurteilung der Angeklagten rechnet, will das Verfahren möglichst abkürzen und beispielsweise wann immer möglich auf die Vernehmung von Zeugen verzichten. Er hofft auf eine baldige Verständigung mit den Prozessbeteiligten über das Strafmaß. Dass das Agentenpärchen ein Geständnis ablegt, schließt er aus.

Wie ist die Beweislage?
Erdrückend. Die Anklage hat die letzten beiden Jahre der Agententätigkeit  fast vollständig rekonstruiert. Aus der Zeit davor gibt es immerhin starke Indizien. Beispielsweise sind auf einer Straßenkarte aus dem Jahr 1992 mehrere Stelle markiert, an denen sich einst offenkundig Tote Briefkästen befanden – das sind Übergabeorte für Verratsmaterial.

Mit welchem Urteil ist zu rechnen?
Anders als in Russland oder in den USA werden überführte Spione in Deutschland vergleichsweise milde bestraft. Und nur ganz selten wird der Strafrahmen ausgeschöpft. Schwer zu sagen, was am Ende herauskommt. Unsere Prognose: Sechs bis acht Jahre Haft.

 

* Korrektur, Dienstag, 15.1., 22.06 Uhr: Fälschlicherweise hatten wir zunächst das ähnliche Wappen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB abgebildet. Ein Leser hat uns darauf hingewiesen und wir haben das Bild korrigiert.

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Gregor Gysi

$
0
0

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Gregor Gysi

Der Fraktionschef der Linken hat seine parlamentarische Immunität verloren. Gysi soll eine falsche eidesstattliche Versicherung über seine Gespräche mit dem DDR-Geheimdienst abgegeben haben.

Foto: DW


Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat ein Ermittlungsverfahren gegen den Linke-Spitzenpolitiker Gregor Gysi  eingeleitet. Das geht aus einem Schreiben der Behörde vom 31. Januar dieses Jahres hervor, das der “Welt am Sonntag” vorliegt.

Die Strafverfolger ermitteln wegen des Verdachts, dass Gysi eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben hat. Das Verfahren, das auf die Anzeige eines früheren Richters zurückgeht, trägt das Aktenzeichen 7101 Js 10/13. “Ich kann bestätigen, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen Gregor Gysi eingeleitet hat”, sagte Behördensprecher Carsten Rinio.

Hintergrund der Ermittlungen sind unter anderem Recherchen, die die “Welt am Sonntag” Anfang April 2012 veröffentlicht  hatte. In dem Beitrag ging es darum, dass Gysi in einer presserechtlichen Auseinandersetzung falsche Angaben gemacht haben könnte. Anlass dafür war die Darstellung des Politikers, er habe zu DDR-Zeiten dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) niemals Informationen über Personen geliefert.

Gysi drohen bis zu drei Jahre Haft

Inzwischen genießt der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linkspartei keine Immunität mehr. Wie diese Zeitung aus Parlamentskreisen erfahren hat, befasste sich der Immunitätsausschuss in seiner Sitzung am 31. Januar mit dem Fall und erhob keine Einwände gegen das Verfahren der Staatsanwaltschaft. Nach Paragraf 156 des Strafgesetzbuches wird die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet.

Grundsätzlich genießen Abgeordnete Immunität, um ihre politische Unabhängigkeit vor Sanktionen der Exekutive zu schützen. Der bislang wohl prominenteste Fall, in dem die Immunität eines Bundestagsabgeordneten aufgehoben wurde, betraf 1983 den damaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Er wurde später wegen Steuerhinterziehung zu einer erheblichen Geldstrafe verurteilt.

Der letzte größere Fall einer Immunitätsaufhebung mit juristischen Folgen war 2009/10 der SPD-Parlamentarier Jörg Tauss, der wegen Besitzes von Kinderpornografie zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Zwei Jahre zuvor hatte der SPD-Abgeordnete Hans-Jürgen Uhl sein Mandat niedergelegt, nachdem er eingestanden hatte, fünf falsche eidesstattliche Versicherungen abgegeben zu haben, um die Presse einzuschüchtern. Er erhielt für die Verwicklung in die Rotlichtaffäre um den VW-Konzernbetriebsrat eine hohe Geldstrafe.

Gysi bestritt Verbindungen zur DDR-Staatssicherheit

Gregor Gysi hatte sich im Januar 2011 gegen die Ausstrahlung einer NDR-Dokumentation gewehrt, in der auch seine mutmaßlichen Kontakte zur DDR-Staatssicherheit thematisiert wurden. In diesem Rechtsstreit hatte der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, derzufolge er “zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet” habe.

Auf Antrag der “Welt am Sonntag” hatte die Stasi-Unterlagen-Behörde ein Jahr später dann einen dreiseitigen Vermerk des MfS freigegeben, demzufolge Gysi am 16. Februar 1989 zwei Stasi-Offizieren umfassend über ein Interview berichtet haben soll, das er am Tag zuvor in Ost-Berlin mit den “Spiegel”-Journalisten Ulrich Schwarz und Axel Jeschke geführt hatte.

Die West-Korrespondenten hatten mit dem damaligen Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte in der DDR ein Gespräch über juristische, aber auch allgemeinpolitische Fragen geführt. Der “Spiegel” druckte es am 13. März 1989.

Redete Gysi auf Anweisung des ZK mit dem “Spiegel”?

Der Vermerk der SED-Geheimpolizei legt nahe, dass Gysi seinerzeit wusste, dass er mit Stasi-Offizieren redete. Denn wenn diese verdeckt oder unter falscher Identität Informationen sammelten und Gespräche führten, wurde das üblicherweise vermerkt; das ist in diesem Papier jedoch nicht der Fall.

In dem von Leutnant Uwe Berger verfassten Vermerk heißt es über Gysi unter anderem: “Er machte deutlich, dass entgegen seiner persönlichen Einschätzung gegenüber der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED das Interview für den ,Spiegel’ aus Gründen der Unseriosität des Blattes und den damit verbundenen Gefahren für eine ordnungsgemäße Wiedergabe nicht zu gestatten [sei], letztlich aus Gründen der Dialogpolitik anders entschieden wurde.” Demnach wäre Gysi gegen das Interview gewesen und hätte nur auf Anweisung des ZK mit Schwarz und Jeschke gesprochen.

In direktem Widerspruch dazu steht die Darstellung, die Gysi selbst über dieses Interview gegeben hat. So betonte er in dem der Linkspartei nahestehenden Blatt “Neues Deutschland”, welchen Mut es erfordert habe, mit dem im Politbüro verhassten “Spiegel” so offen zu sprechen. “Ein solches Interview war für mich doch nicht ganz ohne”, sagte er Anfang 2009.

Seit 20 Jahren Spekulationen um IM “Notar”

Seit rund zwei Jahrzehnten wird spekuliert, ob sich der Rechtsanwalt hinter den beiden Decknamen IM “Gregor” und IM “Notar” verbirgt, unter denen das MfS zahlreiche brisante und vertrauliche Informationen über Gysis Mandanten registrierte. Bisher konnte sich der Politiker, dessen Vater bereits wichtige Funktionen im SED-Staat eingenommen hatte, stets mit juristischen Mitteln gegen diesen Verdacht wehren. Geholfen hat ihm dabei, dass Gerichte die Beweiskraft von Stasiunterlagen wiederholt niedrig eingeschätzt haben.

1998 beschäftigte sich der Immunitätsausschuss des Bundestages schon einmal mit den Stasi-Vorwürfen gegen Gysi. Im Bericht heißt es, der erste Ausschuss habe mit der “vorgesehenen Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder eine inoffizielle Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen festgestellt”.

Gysi wehrte sich gegen diese Feststellung mit einer eigenen Stellungnahme. Darin steht unter anderem, die Untersuchung sei “von Beginn bis zum Ende” ein “politisches Verfahren” gewesen, “in dem die Mitglieder des Ausschusses die eigenen Richtlinien und Absprachen permanent verletzten”.

“Ich brauchte keine Kontakte zur Staatssicherheit”

Der damalige Vorsitzende der PDS-Bundestagsgruppe zog aus dem Bericht des Immunitätsausschusses keine politischen Konsequenzen, sondern klagte im Gegenteil mehrfach mit Erfolg gegen Äußerungen, die ihm eine Verbindung mit der Stasi unterstellten. Gegen die Veröffentlichung der “Welt am Sonntag” im April 2012 allerdings klagte Gysi nicht. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass der Vermerk über das Gespräch am 16. Februar 1989 bei einem deutschen Gericht vorgelegen hätte.

Seit der vergangenen Woche liegen dieser Redaktion weitere Dokumente vor, die den Verdacht von Kontakten mit dem MfS erhärten. Laut diesen Stasi-Papieren soll er sich im Jahr 1989 mehrfach mit einem MfS-Offizier getroffen und dabei auch über konkrete Personen berichtet haben. Gysi bestritt zuletzt im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der “Welt am Sonntag” solche Gespräche kategorisch.

Zuvor schon hatte er 2008 im Plenum des Bundestag unmissverständlich erklärt: “Ich brauchte keine Kontakte zur Staatssicherheit. Sie waren gar nicht nötig, entsprachen weder meinem Stil noch meiner Würde.”

Über Wulff urteilte Gysi dezidiert

Brisant ist der Vorgang nicht nur wegen des Verdachtes, der erfahrene Anwalt Gysi könnte eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben haben. Hinzu kommt, dass sich der Linkspartei-Fraktionschef, der zugleich Mitglied des Spitzenteams seiner Partei für die Bundestagswahl ist, vor fast genau einem Jahr, auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, dezidiert geäußert hatte.

Nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover, die Immunität des Staatsoberhauptes aufzuheben, hatte Gysi laut einem Bericht des “Neuen Deutschlands” gesagt, der Bundespräsident habe keine andere Chance als Rücktritt mehr. Das Land brauche “einen souveränen Bundespräsidenten, und er ist nicht mehr souverän. Das Ganze beschädigt das Amt”.

Der Text auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Bundesregierung wollte CIA-Spion freibekommen

$
0
0

Bundesregierung wollte CIA-Spion freibekommen

Die russischen Richter zeigten sich wenig gnädig: 18 Jahre Lagerhaft lautete das Urteil für Waleri Michailow. Mit Milde war angesichts der Vorwürfe gegen den ehemaligen Oberst des russischen Inlandgeheimdienstes FSB auch nicht zu rechnen. Mehrere tausend geheime Dokumente soll er dem amerikanischen Nachrichtendienst CIA zugespielt und dafür zwei Millionen US-Dollar kassiert haben. Eine Blamage für den mächtigen Inlandsgeheimdienst, zumal Michailow ausgerechnet in der Spionage-Abwehr arbeitete.

Seit dem Richterspruch im vergangenen Jahr sitzt der Ex-FSB-Offizier im Straflager Nr. 3 in Irkutsk, Sibirien. Seit Wochen liegen die Temperaturen dort unter minus 30 Grad. Seine Essensrationen darf er sich nur selten im Lagergeschäft aufbessern. Michailow, älter als 60 Jahre, bleibt nicht viel Hoffnung – außer vielleicht auf die Bundesregierung.

Wir hatten im Oktober berichtet, dass ein Versuch der Bundesregierung gescheitert ist, das russische Agentenpaar Andreas und Heidrun Anschlag auszutauschen. Die beiden müssen sich derzeit vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verantworten, sie sollen mehr als 20 Jahre in der Bundesrepublik für den russischen Auslandsgeheimdienst SWR spioniert und dabei wichtige NATO- und EU-Geheimnisse verraten haben. Unklar war bislang, wen die deutsche Seite gegen die Anschlags austauschen wollte.

In der aktuellen “Welt am Sonntag” können wir dieses Geheimnis nun lüften. Es handelt sich um zwei Russen, die wegen Spionage in russischer Haft sitzen. Einer der beiden ist der Doppelagent Michailow, der andere gilt als “kleiner Fisch”. Von ihren Informationen hatte auch die Bundesregierung profitiert. Auch wenn die Verhandlungen vorerst gescheitert sind, bleibt ihnen ein Funken Hoffnung. “Nach einer Verurteilung des Agentenpaares sind wir durchaus wieder zu Verhandlungen über einen Tausch bereit”, heißt es auf deutscher Seite.

Wenn die zwei Topspione des SWR Andreas und Heidrun Anschlag wieder in ihre Heimat zurückkehren, müssen sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen. Der russische Auslandsgeheimdienst hat ihnen bereits einen neuen Job angeboten. Sie können als Dozenten im sogenannten Illegalen-Programm anfangen.

Dahinter verbirgt sich eine besondere Spezialität der russischen Auslandsspionage. Seit KGB-Zeiten werden die besten jungen Agenten mit falschen Namen und konstruierten Lebensläufen im Ausland platziert. Hinter bürgerlicher Fassade sammeln sie geheimdienstlich relevante Informationen. Dieses Programm wird auch nach dem Ende des Kalten Kriege weitergeführt. Und Deutschland gilt als wichtiges Zielland für die russischen Undercover-Agenten. Grund genug für uns, einmal ausführlich den Auslandsgeheimdienst SWR und seine Methoden vorzustellen.

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog


“Schon der Vorwurf wiegt schwer”

$
0
0

“Schon der Vorwurf wiegt schwer”

Thomas Strobl (CDU), Vorsitzender des Immunitätsausschusses im Bundestag, über Ermittlungen gegen Abgeordnete und den Vorwurf gegen Gregor Gysi, über Stasi-Kontakte gelogen zu haben.

Von Uwe Müller

In der Parlamentshierarchie ist es der erste Ausschuss, der über Geschäftsordnung, Wahlprüfung und die Immunität von Parlamentariern berät. Sein Vorsitzender ist seit 2005 Thomas Strobl, Jurist aus Baden-Württemberg und stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender.

Welt am Sonntag: Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat ein Ermittlungsverfahren gegen Gregor Gysi eingeleitet. Kommt es oft vor, dass gegen Bundestagsabgeordnete ermittelt wird?

Thomas Strobl: Zunächst: Als Vorsitzender des Immunitätsausschusses des Deutschen Bundestages achte ich aufmerksam darauf, dass wir mit Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete sehr diskret und sensibel umgehen und die Vorschriften genau eingehalten werden. Dazu gehört auch, dass die Beratungen grundsätzlich vertraulich sind. Schließlich gilt auch hier die Unschuldsvermutung. Daher prüfen wir bei eingehenden Anträgen der Staatsanwaltschaft nur, ob es Anhaltspunkte für ein willkürliches oder sachfremdes Vorgehen der Staatsanwälte gegen einen Abgeordneten gibt. Ist dies, wie üblich, nicht der Fall, können die Ermittlungen gegen den Abgeordneten beginnen. Ohne dass ich da zu viel preisgebe, kann ich sagen, dass das im Laufe einer Wahlperiode nicht nur einmal vorkommt.

Welt am Sonntag: Wiegt so ein Vorwurf bei einem Rechtsanwalt besonders schwer, der weiß, dass bei einer eidesstattlichen Versicherung jedes Wort auf die Goldwaage zu legen ist?

Strobl: Man darf von jedem Bürger, egal ob Abgeordneter, Rechtsanwalt oder beispielsweise Handwerker, schon erwarten, dass er in einem Rechtsstreit die Wahrheit sagt. Wenn es sich dann noch um eine Aussage in Form einer eidesstattlichen Versicherung handelt – deren Bedeutung gerade einem Rechtsanwalt besser als einem Handwerker bekannt ist –, muss natürlich jedes Wort wohlbedacht sein. Eine falsche eidesstattliche Versicherung kann also gerade einem Rechtsanwalt nicht unbedacht “herausrutschen”.

Welt am Sonntag: Die “Welt am Sonntag” hatte bereits im April 2012 über den Verdacht berichtet, dass Gysi eine falsche eidesstattliche Erklärung abgegeben haben könnte. Erst jetzt wird die Staatsanwaltschaft aktiv. Stimmt der Satz, wonach die Mühlen der Justiz langsam mahlen?

Strobl: Es kommt gerade in Strafverfahren wegen der enormen Auswirkungen, die vor allem eine Verurteilung mit sich bringt, in erster Linie auf ein rechtsstaatlich einwandfreies Vorgehen und eine sorgfältige Prüfung aller be- und entlastenden Beweismittel an. Insofern ist Schnelligkeit kein geeigneter Gradmesser für ein Strafverfahren.

Welt am Sonntag: Damals haben Sie unserer Redaktion gesagt: “Ich bin davon überzeugt, dass er die Abgeordneten über seine Kontakte zur Staatssicherheit belogen hat.” Daraufhin soll Gysi mit rechtlichen Schritten gedroht haben. Stimmt das und was wurde daraus?

Strobl: Ich habe mich seinerzeit auf das vom Bundestag durchgeführte Stasi-Überprüfungsverfahren gegen den Abgeordneten Gregor Gysi wegen der Vorwürfe einer informellen Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR bezogen. Der Bundestag hatte nach einer sorgfältigen Prüfung bereits in der 13. Wahlperiode eine inoffizielle Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als erwiesen festgestellt (Bundestagsdrucksache 13/10893). Diese Tätigkeit hat Herr Dr. Gysi stets bestritten und bestreitet sie noch heute. Aber die Feststellungen des Bundestages stehen dem entgegen, das ist festzuhalten.

Welt am Sonntag: Der Linken-Politiker Dietmar Bartsch hatte vor dem Rücktritt von Annette Schavan erklärt, die Bildungsministerin sei nicht mehr handlungsfähig, weil die Düsseldorfer Universität ihr den Doktortitel entzogen hat. Ist Gysi noch handlungsfähig?

Strobl: Eine gerichtliche Entscheidung, dass die eidesstattliche Aussage von Gysi falsch war, liegt noch nicht vor. Aber natürlich wiegt schon der Vorwurf schwer. Und er wirkt in einem Strafverfahren auch schwerer als in einem Stasi-Überprüfungsverfahren, das ja keine Sanktionen gegen einen als Stasi-Spitzel überführten Abgeordneten kennt.

Welt am Sonntag: Kennen Sie in der Geschichte der Bundesrepublik den Fall eines anderen Fraktionschefs, der so wie jetzt Gysi ins Visier der Ermittlungsbehörde geriet?

Strobl: Aus meiner Zeit im Immunitätsausschuss ist mir ist kein solcher Fall bekannt.

Das Interview auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

“Unterlagen sind im Fall Gysi reichlich vorhanden”

$
0
0

“Unterlagen sind im Fall Gysi reichlich vorhanden”

Der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn, hatte sich als Journalist schon vor Jahren mit den Kontakten zwischen Gregor Gysi und Stasi beschäftigt. Ein Gespräch zu den neuen Vorwürfen.

Von Uwe Müller

Mehr als 120 laufende Regalkilometer Akten verwahrt die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) in Berlin und den zwölf Außenstellen. Auch der dreiseitige Vermerk, der jetzt das Ermittlungsverfahren gegen Gregor Gysi wegen einer möglicherweise falschen Versicherung an Eides statt ausgelöst hat, stammt aus dieser gewaltigen Hinterlassenschaft des SED-Geheimdienstes. Seit Anfang 2011 ist Roland Jahn der vom Bundestag gewählte Bundesbeauftragte für diese Unterlagen. Der frühere DDR-Dissident und langjährige ARD-Journalist gehört zu den hartnäckigsten Aufklärern der DDR- und Stasi-Vergangenheit.

Die Welt: Gregor Gysi wehrt sich gegen den Vorwurf, eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben zu haben. Wundert Sie das?

Roland Jahn: Jedem steht es frei, die Mittel des Rechtsstaates zu nutzen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen des Verdachts der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung können helfen, die unterschiedlichen Sichtweisen auf mögliche Kontakte von Gregor Gysi mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu klären.

Die Welt: Schon bevor Sie Chef der Stasiunterlagen-Behörde geworden sind, haben Sie sich als ARD-Journalist mit dem Fall Gregor Gysi befasst. Sagt er die Wahrheit über seine Kontakte zu SED-Geheimpolizei?

Jahn: Das ist richtig, ich habe mich in meiner langjährigen Tätigkeit als Journalist auch mit möglichen Verstrickungen von Gregor Gysi mit der Staatssicherheit beschäftigt. Keiner hat die Wahrheit gepachtet. Damals ging es mir darum, die Inhalte der Akten und die Zeitzeugen, also Gregor Gysi, die Mandanten, die er vertreten hat, und die Stasi-Offiziere, die in den Akten mit den Fällen betraut waren, in einem umfassenden Bild darzustellen.

Die Stasi-Offiziere verweigerten sich. Die Mandanten haben ihre Erlebnisse in Bezug gesetzt zu der Darstellung in den Akten und das hat auch Gregor Gysi getan. Beide Seiten kamen zu unterschiedlichen Auffassungen. Jeder Betrachter konnte seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen.

Die Welt: Es gibt etliche Dokumente aus Ihrer Behörde, in denen schwarz auf weiß geschrieben steht, dass Gysi der Staatssicherheit über Personen berichtet hat. Er bestreitet das energisch. Wie glaubwürdig ist das?

Jahn: Die Akten stellen immer die Sichtweise der Staatssicherheit dar. Es sind wichtige Zeugnisse. Die Stasi hat die Akten ja nicht in dem Wissen angelegt, dass wir heute in diese Unterlagen schauen. Sie waren notwendige Arbeitsgrundlage der Geheimpolizei. Natürlich kann man immer eine Restwahrscheinlichkeit betonen, mit der all das Dargestellte in den Akten erfunden oder von einer ganz anderen Quelle irgendwie seinen Weg dorthin gefunden hat. Am wichtigsten ist, dass wir aufzeigen, was in den Unterlagen steht, damit sich jeder ein umfassendes Bild machen kann.

Die Welt: Hat die Hamburger Staatsanwaltschaft bereits Kontakt mit Ihnen aufgenommen? Nirgendwo gibt es so viel Expertise über Gysis Verhältnis zur Stasi wie in Ihrer Behörde.

Jahn: Nein.

Die Welt: Wie können Sie die Strafverfolger bei Ihrer Aufgabe, die Wahrheit über Gysis mögliche Falschaussage herauszubekommen, unterstützen?

Jahn: Die Behörde wird auch die Arbeit der Staatsanwaltschaft entsprechend des Stasiunterlagen-Gesetzes unterstützen. Unsere Aufgabe ist es aber nicht, Menschen zu bewerten, sondern Unterlagen.

Die Welt: Der Fall Gysi hat, wie wir von unseren Recherchen wissen, ganz viele Facetten. Rechnen Sie damit, dass sich das Ermittlungsverfahren lange hinziehen wird? Geht es um Wochen oder Monate?

Jahn: Das ist eine Frage für die Hamburger Staatsanwaltschaft. Es kommt auch darauf an, wie viele der reichlich vorhandenen Unterlagen sie anfordert.

Die Welt: Welche Erwartungen haben Sie an das Ermittlungsverfahren? Wird am Ende hinsichtlich der Biografie von Gysi die “Frage aller Fragen” geklärt sei? Nämlich ob er wissentlich und willentlich an die Stasi berichtet hat?

Jahn: Ich begrüße es immer, wenn Aufklärung geschieht und hoffe, dass die Unterlagen, die ja auch dem Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages bei der Klärung dieser Frage eine große Hilfe waren, weiterhin eine Stütze sind. Die Unterlagen sind dazu da, sie immer wieder zu nutzen, um Aufklärung über das Funktionieren der Stasi und der SED-Diktatur zu ermöglichen.

Das Interview auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Hans Lipschis – “Ich war nur Koch in Auschwitz”

$
0
0

Hans Lipschis – “Ich war nur Koch in Auschwitz”

Hans Lipschis war als SS-Mann im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. 68 Jahre lang lebte er fast unbehelligt. Nun taucht sein Name auf einer Suchliste auf. Unsere Reporter haben ihn gefunden.

Foto: Lengemann

Hans Lipschis. Heute lebt er in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Über seine Vergangenheit spricht er – aber nicht lange Foto: Lengemann

Von W. Büscher, G. Gnauck, Sven F. Kellerhoff und U. Müller

Man kennt diese Siedlungen, sie ähneln sich alle. Ihre schmucklosen 50er-Jahre-Häuser, diese etwas verhaltene Stimmung. Und wer das Stadtviertel nicht daran erkennt, der erkennt es spätestens an den Straßennamen. Westpreußenstraße, Ostpreußenstraße, Pommernstraße. Es ist eine jener Flüchtlingssiedlungen, wie sie nach dem Krieg in vielen westdeutschen Städten errichtet wurden, um die Millionen Landsleute aus den verlorenen Ostprovinzen aufzunehmen – diese liegt am Rande einer 60.000-Einwohner-Stadt in Württemberg.

Die alten Flüchtlingsviertel hübschen sich auf. Das Haus dort drüben zum Beispiel ist rosa getüncht. Der Mann, der darin lebt, zog erst 1983 hierher, und er kam nicht aus dem Osten, er kam aus Amerika. Eine Art Flüchtling war er dennoch. Amerika hatte ihn des Landes verwiesen, seine Vergangenheit war hinter ihm her. Zwei Begriffe reichen, um sie anzudeuten: Auschwitz und SS.

Lesen Sie hier die Geschichte unserer Suche: So fand die “Welt am Sonntag” Hans Lipschis.

“Ist Herr Lipschis zu sprechen?”

Es ist Samstagmittag, der erste warme Tag in diesem späten Frühling, Leute kommen aus ihren Häusern und machen sich in den Vorgärten zu schaffen. Vor dem rosa Haus blühen Stiefmütterchen und Osterglocken. Es ist an den Hang gebaut, zwischen Haus und Garage führt eine weiße Lattentür zu einer Treppe, die wiederum führt zur separaten Wohnung im Untergeschoss. Auf ihrer Klingel steht: Herr Hans Lipschis. Eine ältere Frau öffnet.

“Guten Tag, ist Herr Lipschis zu sprechen?”

“Er ist da, kommen Sie herein.”

Ein enger Flur, ein kleiner Raum, ein Tisch, darauf sein Mittagessen, die Frau hat es ihm wohl gebracht. Er steht auf, leicht gebeugt, aber ein immer noch stattlicher Mann mit seinen 93 Jahren, weißhaarig, Pullover, hellgraue Haushose, braune Wildlederhausschuhe.

“Ja bitte, Sie wünschen?”

“Ihr Name steht auf einer kürzlich veröffentlichten Liste von Leuten, denen Beteiligung an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg vorgeworfen wird.”

“Waren Sie in Auschwitz?”

Er kommt nahe heran, um den, der so plötzlich in seinem Zimmer steht, zu verstehen, offenbar hört er nicht mehr gut.

“Waren Sie in Auschwitz?”

“Ja.”

“Als was?”

“Als Koch.”

“Als Koch?

“Ja, als Koch, die ganze Zeit.”

“Haben Sie für die Häftlinge gekocht oder für die Mannschaften?”

“Für die Mannschaften.”

“Haben Sie miterlebt, was in Auschwitz geschah?”

“Nein.”

“Sie haben davon nichts gesehen?”

“Gesehen nicht, gehört schon.”

“Waren Sie bis zum Ende in Auschwitz?”

“Nein, da war ich an der Front.”

“Wann kamen Sie an die Front?”

“Das weiß ich nicht mehr genau.”

“An die Ostfront?”

“Ja.”

“In welcher Einheit?

“Habe ich vergessen.”

“Das war wegen der SS”

Das Essen steht auf dem Tisch, die Frau, die das Essen brachte, hat sich hinter die offen stehende Zimmertür zurückgezogen. Seine Ehefrau ist 2007 gestorben.

“Wann hatten Sie geheiratet?”

“Nach dem Krieg.”

“War Ihre Frau von hier?”

“Nein, aus meiner Heimatstadt in Litauen.”

“Sie sind dann zusammen nach Amerika gegangen 1956?”

“Ja.”

“Und zusammen nach Deutschland zurückgekehrt, als Sie 1983 ausgewiesen wurden?”

“Ja, das war wegen der SS.”

“Warum sind Sie damals in diese Stadt gezogen?”

“Ich kannte hier jemanden.”

“Hatten Sie nach dem Krieg noch Kontakt zu Kameraden?”

“Nein.”

Was ist ein Leben?

Eine Pause entsteht. Das Essen auf dem Tisch wird langsam kalt.

“Möchten Sie nicht erst zu Ende essen, wir können danach weiterreden.”

Er winkt ab. “Ach, egal.”

“War es eine gute Zeit in den USA?”

“Ja, ich hatte Arbeit, gute Arbeit, in einer Gitarrenfabrik in Chicago, ich habe die Holzteile für die Gitarren hergestellt. Harmony hieß die Firma.”

Harmony, ein bekannter Name unter Musikern. Es ist denkbar, dass dieser Mann eine Gitarre gebaut hat, die Elvis Presley spielte. Oder Keith Richards. Oder Bob Dylan. Oder Neil Young. Sie alle spielten Instrumente der Firma Harmony. Eine kurze Freude geht über sein Gesicht bei dieser Erinnerung. Vielleicht war es die beste Zeit seines Lebens. Was ist ein Leben? Etwas aus einem Guss oder manchmal ein Rätsel, dessen Teile einfach nicht zusammengehen?

Vielleicht hat er es kommen sehen

Er ist ein junger Mann in einer litauischen Kleinstadt, als die Wehrmacht im Juni 1941 Litauen besetzt. Da heißt er noch Antanas Lipsys. Vier Monate später ist er SS-Mann in Auschwitz. Zwei Jahre später erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. Er sagt, man habe da keine Wahl gehabt. Es habe geheißen, komm her, junger Mann, mach dies, mach das. Er habe denen gesagt, er könne ja nicht mal richtig Deutsch. Er komme in einen Deutschkurs, habe man ihm geantwortet. Er lacht. “Den gab es natürlich nie.”

Er landet nach dem Krieg in Westdeutschland, geht 1956 nach Amerika, lebt dort über ein Vierteljahrhundert, wird 1983 ausgewiesen, schon damals ein Rentner, und lebt seit 30 Jahren wieder in Deutschland. Und jetzt steht dieser Reporter in seinem Zimmer und stellt Fragen.

Und Hans Lipschis antwortet. Er will reden. Nicht dass er sprudelt, nicht dass alles wahr ist, was er sagt. Man ist nicht drei Jahre als SS-Mann in Auschwitz und hat von dem, was dort geschah, nur gehört. Nicht dass er dieses Gespräch gesucht hätte. Aber vielleicht hat er es kommen sehen. Irgendwo, irgendwann. Er könnte den, der jetzt vor ihm steht, rausschmeißen. Er tut es nicht. Er lässt sein Essen kalt werden, es interessiert ihn nicht mehr.

“Haben Sie jemals bereut?”

“Leben denn noch Verwandte?”

“Eine Tochter, in Chicago.”

“In Deutschland niemand mehr?”

“Nein.”

“Und wie geht es Ihnen?”

Achselzucken, linkisches Lachen. “Das Leben läuft aus. Ich bin krank. Na ja …”

An der Wand hängt ein Gebet: “Herr, segne den Abend des Tages, den Abend des Lebens, den Abend der Zeit.”

“Haben Sie jemals bereut, was Sie damals getan haben?”

Er murmelt etwas Unverständliches. Beantwortet die Frage nicht, weist sie auch nicht zurück. “Man ist alt. Ein alter Mann mit kleiner Rente in einer kleinen Wohnung.” Geste zum billigen beigefarbenen Teppich in den kargen Raum hinein. “Sie sehen ja.” Hier ist das Gespräch zu Ende. Er beendet es. Er schließt die Tür.

Er wächst als Litauer auf

Alle wichtigen Fragen sind offen. Wer war dieser junge Mann im Sommer 1941, als die Deutschen kamen? Wie kommt es, dass er nur vier Monate später SS-Mann ist, in Auschwitz? Was hat er dort getan? War er wirklich bloß Koch? Und am Ende noch an der Front? Warum geht er 1956 in die USA? Hat er etwa für die Amerikaner gearbeitet? Wie ist es möglich, dass er 26 Jahre unbehelligt in Chicago lebt – und danach 30 Jahre unbehelligt wieder in Deutschland? Könnte es sein, dass das Leben des Hans Lipschis so etwas wie ein Schlüssel ist zu dem ganzen mörderischen, aber auch verwirrenden Komplex, für den das Wort Auschwitz steht?

Die ersten gut zwei Jahrzehnte seines Leben heißt Hans Lipschis noch Anastas Lipsys. Unter diesem Namen ist er am 7. November 1919 in dem Städtchen Kretinga im Memelland geboren worden, wenige Kilometer von der Ostsee entfernt. Durch den Ort war die Grenze zwischen dem deutschen Ostpreußen und dem russischen Kurland verlaufen, doch der Erste Weltkrieg wirbelte die Verhältnisse im Baltikum durcheinander.

Der junge Lipschis wächst als Litauer auf – er spricht kaum ein Wort Deutsch. Auch als Litauen 1939 das Memelland an Hitlerdeutschland abtreten muss, bleibt seine Familie auf der litauischen Seite. 1940 annektiert dann die Sowjetunion die baltische Republik – und wieder verläuft durch Kretinga eine Grenze, diesmal die zwischen dem nationalsozialistischen Dritten Reich und der kommunistischen Sowjetunion.

Die johlende Menge

Als dann die Wehrmacht im Rahmen des Unternehmens Barbarossa die sowjetische Grenze überschreitet, besetzt das 176. Infanterieregiment am frühen Morgen des 22. Juni 1941 kampflos die Kleinstadt. Schon einen oder zwei Tage später beginnen Beamte der nächstgelegenen Gestapo-Filiale in Tilsit mithilfe von Einheimischen mehr als 200 Juden und Kommunisten in der Gemeinde zusammenzutreiben und in der Synagoge einzupferchen. Sie müssen stundenlang knien und werden von Polizisten geschlagen.

Offiziell beginnt diese Aktion, weil angeblich in Kretinga ein deutscher Offizier und zwei Unteroffiziere erschossen worden sind – laut Gestapo-Bericht “von der Bevölkerung”. Wahrscheinlich aber ist der Tod der drei Wehrmachtssoldaten nur ein Vorwand, denn der Polizeichef von Memel hat ohnehin vorgehabt, in “einem Grenzstreifen von 25 Kilometern Säuberungsaktion von Heckenschützen etc.” durchzuführen.

Am 25. Juni 1941 versammelt sich auf dem Marktplatz von Kretinga eine johlende und aufgeputschte Menge Einheimischer. In der Mitte stehen rund 250 Männer, die ihre Wertsachen abgeben und dann Lastwagen besteigen. Einige Kilometer entfernt werden die meisten von ihnen in einer Waldschneise erschossen; die Juden haben zuvor noch Massengräber ausheben müssen. Ein litauischer Kollaborateur namens Pranas Lukys sorgt dafür, dass einige seiner Bekannten nicht erschossen werden.

Insgesamt sterben 214 Menschen, darunter eine Frau. Die Täter, etwa 30 deutsche Polizisten und 20 Wehrmachtssoldaten, feiern nach dem Massenmord in zwei Lokalen in Kretinga ein Fest. Die Rechnung begleichen sie mit dem Geld, das sie den Opfern abgenommen haben.

Ob Hans Lipschis alias Anastas Lipsys an diesem Mittwoch in der johlenden Menge rund um den Marktplatz von Kretinga steht, ist unbekannt. Mitbekommen haben muss er die öffentlichen Demütigungen, mindestens aber davon gehört haben. Vielleicht gehört er auch zu den litauischen Hilfspolizisten, die unter dem Kommando von Pranas Lukys bei weiteren Massakern helfen.

Am 23. Oktober 1941 tritt er der Waffen-SS bei

Ende Juni 1941 werden in Kretinga etwa 15 jüdische Männer ermordet, zwischen dem 11. und dem 18. Juli weitere 120. Mitte August töten Litauer auf Befehl des Tilsiter Gestapo-Chefs mehr als 20 jüdische Frauen und Kinder, und im September 1941 erschlagen sie mindestens 130 Juden, ältere Männer, Frauen und Kinder mit Eisenstangen und erstechen sie mit Bajonetten. Da das Morden so aber zu lange dauert, teilt die örtliche deutsche Polizei den Litauern Waffen aus und lässt sie die letzten Opfer erschießen. Im Oktober 1941 existiert die einst blühende jüdische Gemeinde von Kretinga nicht mehr.

Zu dieser Zeit weilt Hans Lipschis nicht mehr in seiner Geburtsstadt: Am 23. Oktober 1941 tritt er laut seiner Dienstkarteikarte der Waffen-SS bei. Als SS-Schütze, also einfacher Soldat, wird er zur Wachmannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz in Oberschlesien abkommandiert. Wie viele echte oder vermeintliche “Volksdeutsche” ist er zur Waffen-SS eingezogen worden.

Ausgerechnet die einstige Elitetruppe des Dritten Reiches hat nämlich Nachwuchsprobleme. Da aus ihren Reihen Ende 1939 Kampfverbände für die Front gebildet worden sind, reicht das verbliebene deutsche Personal nicht mehr, die Konzentrationslager ausreichend zu bewachen. Zwar werden immer wieder Waffen-SS-Männer von der Front zurück in die Heimat und dort oft zeitweise in die KZ-Wachmannschaften verlegt. Doch beispielsweise für das geplante riesige Kriegsgefangenenlager nahe dem KZ Auschwitz, das ab Ende September 1941 entsteht, fehlt das notwendige Personal.

Von rund 700 steigt die Zahl der SS-Leute am Standort Auschwitz innerhalb eines Jahres auf knapp 2000. Ein Drittel der 1941 hierher versetzten Männer sind sogenannte Volksdeutsche und sogar fast die Hälfte der 1942 abgeordneten Wachen. Die meisten von ihnen stammen aus Rumänien, Jugoslawien und Litauen. Sie werden nur an leichten Waffen, Pistolen, Gewehren und MGs, ausgebildet – mehr braucht man zum Wachdienst nicht.

Hans Lipschis’ erste Diensteinheit am Standort Auschwitz ist die 6. Kompanie des örtlichen SS-Totenkopf-Sturmbanns; er bekommt die Soldbuch-Nummer 129/6. Die Mitglieder dieser Truppe bewachen das inzwischen zum regulären KZ umgewidmete neue Lager Birkenau.

Was er genau getan hat, ist unbekannt

Offenbar einen ähnlichen Weg wie der junge Litauer geht der fast gleichaltrige Stefan Baretzki aus Czernowitz: Ebenfalls als “Volksdeutscher” zur Waffen-SS eingezogen, kommt er im Frühjahr 1942 nach Auschwitz. Als Angeklagter im großen Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 berichtet Baretzki, wie die Vorgesetzten ihre “volksdeutschen” Untergebenen auf ihre Aufgaben vorbereiteten: “Wir wurden des Öfteren von SS-Offizieren und Zivilisten darüber belehrt, dass die Vorgänge in Auschwitz rechtmäßig seien, weil die eingelieferten Häftlinge sich als Saboteure betätigt hätten.” Der kaum gebildete junge Mann hat da jedoch Zweifel: “Ich persönlich war aber der Auffassung, dass all diese Dinge ein Unrecht waren. Denn was sollen zum Beispiel Kinder für Sabotagehandlungen begangen haben?”

Dennoch tut Baretzki, was von ihm erwartet wird. Dazu trägt die Indoktrination durch Hetzfilme wie “Jud Süß” oder “Ohm Krüger” bei. Baretzki sagt aus: “An diese beiden Titel kann ich mich erinnern. Und was für Folgen das für die Häftlinge hatte! Die Filme wurden der Mannschaft gezeigt – und wie haben die Häftlinge am nächsten Tag ausgesehen!” Auch andere “Volksdeutsche” erinnern sich, dass nach einer abendlichen Vorführung von “Jud Süß” am nächsten Tag jüdische KZ-Insassen zu Tode gequält wurden – einfach zum “Spaß”.

Was Hans Lipschis als Angehöriger der 6. SS-Totenkopf-Kompanie in Auschwitz-Birkenau genau tut, ist unbekannt. Zum Lager- und damit Mordpersonal im engeren Sinne gehört er wohl nicht. Im Gegensatz zu Stefan Baretzki wird er nie zum Kommandanturstab versetzt, übernimmt auch keine Funktion in Häftlingsblocks. Direkt an Selektionen beteiligt ist er wahrscheinlich nicht. Von anderen Mitgliedern des Wachpersonals in Birkenau ist aber bekannt, dass sie ältere Juden auf dem Weg zu den Gaskammern bewachen und vorantreiben.

Am 8. September wird er Koch auf Probe

Zwar dürfen die Wachmannschaften ohne Genehmigung den eigentlichen Häftlingsbereich nicht betreten, doch kommen sie trotzdem täglich in Kontakt mit KZ-Insassen: Sie bewachen die Arbeitskommandos, die außerhalb des eingezäunten Lagers schuften müssen, und werden bei der Suche nach geflüchteten Insassen eingesetzt. Hunderte Überlebende schildern später Misshandlungen durch Wachen bis hin zum Mord, meist beim Arbeitseinsatz.

In der Regel wissen die Häftlinge nicht, wie die beteiligten SS-Männer heißen: Sie dürfen sie nur mit ihrem Rang ansprechen. Als Anfang der 1980er-Jahre Mitglieder der Lagergemeinschaft Auschwitz nach Hans Lipschis gefragt werden, können sie mit seinem Namen nichts anfangen. Ein zeitgenössisches Foto von ihm aber liegt den Behörden seinerzeit nicht vor.

Nach 13 Monaten in Birkenau wird Lipschis am 1. Februar 1943 zur 4. Kompanie des SS-Totenkopf-Sturmbanns versetzt und zum SS-Sturmmann befördert, also zum Gefreiten. Schon zwei Monate später wechselt er zur Stabskompanie; die Gründe sind unklar. Jedenfalls sind beide Einheiten hauptsächlich für das Stammlager Auschwitz I zuständig. Nähere Angaben zu seiner Tätigkeit enthält die Personalkarteikarte nicht.

Am 8. September 1943 bekommt der knapp 24-jährige gelernte Bäcker eine neue Aufgabe: “Auf Probe” wird er als Koch beschäftigt, in der Mannschaftskantine. Seine Aussage trifft also eingeschränkt zu – für eine gewisse Zeit, nicht jedoch für seine gesamten drei Jahre in Auschwitz.

Wie in anderen Konzentrationslagern auch arbeiten in der SS-Küche von Auschwitz zahlreiche KZ-Insassen. Diese Tätigkeit ist begehrt, weil sie die Chance bietet, neben dem völlig ungenügenden und qualitativ schlechten Essen der normalen Häftlingsküchen etwas zusätzliche Nahrung zu ergattern. In der Küche beaufsichtigen SS-Leute die Häftlinge. Denn hier können sie in Kontakt mit zivilen polnischen Angestellten kommen. Über die Mannschaftskantine in Auschwitz werden 1944 zum Beispiel die einzigen vier Fotos aus dem Lagerkomplex herausgeschmuggelt, auf denen die Verbrennung von vergasten Menschen zu sehen ist.

Eigenhändig gekocht hat das SS-Personal wohl eher ausnahmsweise. Da Lipschis “auf Probe” in seine neue Aufgabe wechselt, dürfte er zuvor noch nicht in einer Großküche gearbeitet haben. Offenbar bewährt er sich: Er wird zum SS-Rottenführer befördert, dem höchsten Mannschaftsdienstgrad.

Er überlebt den Endkampf

Mehr als ein Jahr arbeitet der “Volksdeutsche” in der SS-Kantine. Wie überall in der Umgebung von Birkenau ist der Massenmord gegenwärtig: Der süßliche Geruch verbrennender Körper liegt über dem gesamten Areal, fällt unzähligen durchreisenden Soldaten auf, deren Züge auf dem Bahnhof Auschwitz einen Stopp einlegen. Tagsüber sind die dunklen Rauchschwaden aus den Schornsteinen der vier Krematorien und den improvisierten Verbrennungsgruben kilometerweit zu sehen. Nachts sieht man häufig Flammen mehrere Meter hoch schlagen.

Jedermann in der Umgebung weiß, dass gerade im Frühjahr und Sommer 1944 fast täglich mit Menschen vollgestopfte Züge (Link: http://www.welt.de/115410426) in Birkenau ankommen – und wenige Stunden später leer wieder abfahren. Die Aussage von Lipschis, von den Vorgängen in der Mordfabrik nur gehört zu haben, ganz so wie jemand, der Hunderte Kilometer entfernt lebte, ist nach allem, was man über Auschwitz und Birkenau weiß, unglaubwürdig.

Als schließlich die Rote Armee dem Lagerkomplex näherrückt, beginnt die SS am 17. Januar 1945 mit der “Evakuierung”: Innerhalb weniger Tage marschieren fast 60.000 unterernährte Häftlinge in Richtung Westen, bewacht von SS-Personal, darunter die meisten Angehörigen des Totenkopf-Sturmbanns. Nur 7000 Menschen, die zu krank oder zu schwach sind, um mitzugehen, bleiben zurück. Sie werden von der Roten Armee am 27. Januar 1945 befreit; ihre in Marsch gesetzten Leidensgenossen kommen in andere, oft bereits völlig überfüllte KZ oder sterben auf den Todesmärschen.

Das Wachpersonal von Auschwitz wird entweder zur Bewachung in anderen KZ eingesetzt oder zu Waffen-SS-Einheiten beordert, die gegen die vorrückenden Sowjets kämpfen. Stefan Baretzki etwa kommt zur neu aufgestellten SS-Grenadierdivision 30. Januar, die im April 1945 erfolglos versucht, den Sturmangriff auf die “Reichshauptstadt” Berlin abzuwehren. Was genau Hans Lipschis in dieser Zeit tut, ist unklar. Er wird dann zur Waffen-SS an die Front versetzt und überlebt den Endkampf.

1956 wandern sie nach Chicago aus

Sein Name und seine Tätigkeit in Auschwitz sind jedoch schon bald nach Kriegsende bekannt: Noch im Jahr 1945 taucht Lipschis auf einer Suchliste der US-Besatzungsverwaltung auf – mit korrektem Geburtsdatum. Offenbar beruht dieser Eintrag auf dieser Suchliste auf einer Personalakte, nicht auf Zeugenaussagen. Denn eine äußere Beschreibung gibt es ausdrücklich nicht, ebenso wenig ein Foto. Angaben über seinen Verbleib haben die US-Ermittler ebenfalls nicht.

Vielleicht gehört Hans Lipschis tatsächlich zu jenen SS-Leuten, die trotz ihrer Vergangenheit einen Job bei der amerikanischen Besatzungsmacht erhalten, wie Jahrzehnte später eine große deutsche Zeitung spekuliert. Belege dafür gibt es allerdings nicht.

Nach seiner eigenen Aussage heiratet Lipschis nach dem Krieg. Seine Frau habe er aus seiner Heimatstadt Kretinga gekannt. Das Paar lebt bis 1956 in der Bundesrepublik, wo genau, ist unbekannt, welcher Arbeit Lipschis nachgeht, ebenso. Dann, 1956, wandern Hans Lipschis und seine Frau in die USA aus, nach Chicago. Was damit zu tun haben mag, dass Chicago ein Zentrum der litauischen Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg ist.

Amerika schaut sich um

Von der Ausreise nach Amerika an bis in die frühen Achtzigerjahre lebt Hans Lipschis unbehelligt von seiner SS-Vergangenheit das Leben eines Industriearbeiters im Südwesten von Chicago. Dort formt und glättet er Holzteile für Gitarren in jener Fabrik namens Harmony, welche die Popstars der Welt mit Instrumenten versorgt.

Doch die Harmonie seines eigenen Daseins neigt sich dem Ende zu. Eine neue Zeit bricht an, Amerika tritt allmählich aus den Zwängen des Kalten Krieges und des Lagerdenkens heraus und schaut sich um: Wen haben wir eigentlich alles aufgenommen aus Nachkriegsdeutschland und Europa – etwa auch Kriegsverbrecher, denen wir einen Ruheraum boten?

Im Mittelpunkt dieser Revision der Zuwanderung steht der Jurist Allan R. Ryan. Nicht alle mögen, was er tut. Anfeindungen von Politikern, bis zu 20 Hassbriefe im Monat: Für Ryan gehört das zum Berufsalltag. Seine Gegner werfen ihm vor, ein “schwarzes Kapitel in der Geschichte des Landes” aufzuschlagen, ja, sich gar “Terrortaktiken der kommunistischen Geheimpolizei” zu bedienen. Dabei ist Ryan ein US-Bundesanwalt, den Gesetzen der Vereinigten Staaten verpflichtet. Doch seine Mission ist heikel und kratzt am Selbstbild der Nation. Ryan soll einen dunklen Fleck der amerikanischen Geschichte ausleuchten. Manche halten ihn für einen Nestbeschmutzer. Deshalb wird er regelmäßig zur Zielscheibe wütender Attacken.

Auch zahlreiche Täter ins Land gelassen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestatten die Vereinigten Staaten mehreren Hunderttausend Menschen, die den Holocaust überlebt hatten und den Pogromen in Osteuropa entkommen waren, die Einreise ins Land. Dazu wird für einige Jahre eigens ein Bundesgesetz erlassen, der berühmte Displaced Persons Act. Die Großzügigkeit gegenüber jenen, die damals Zuflucht suchten, erfüllt die Amerikaner noch im Rückblick mit Stolz und ist fest verankert im kollektiven Bewusstsein.

Als dann allerdings 1977 der Demokrat Jimmy Carter ins Weiße Haus einzieht, rückt eine weniger schmeichelhafte Facette der Einwanderungspolitik in den Blick. Denn Amerika hatte nicht nur Opfer, sondern auch zahlreiche Täter ins Land gelassen. Mehrere Tausend Nazi-Kollaborateure und Kriegsverbrecher gelangten Schätzungen zufolge ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, oft mit Wissen oder Duldung der Behörden.

Diese lange ignorierte Infiltration wird nun Thema quälender Debatten, Amerika entdeckt sein verdrängtes Nazi-Problem. Viele Amerikaner wollen die unrühmliche Vergangenheit am liebsten ruhen lassen. Aber das verhindert der von Demokraten dominierte US-Kongress: Mit Blick auf die “Nazi War Criminals” erleichtert er Abschiebungen und Ausbürgerungen. Das ist die Voraussetzung für den nächsten Schritt. 1979 richtet das Bundesjustizministerium ein Untersuchungsamt für Nazi-Verbrecher ein, das Office of Special Investigations (OSI). Zum Direktor der neuen Behörde wird Allan R. Ryan berufen.

Der Mittdreißiger, in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts aufgewachsen, Absolvent der Universität von Minnesota, schart einen Stab von 50 Experten um sich – Anwälte, Historiker und Archivare. Bevor die Mitarbeiter des OSI, das über einen stattlichen Jahresetat von 2,5 Millionen Dollar verfügt, richtig loslegen können, müssen sie zunächst Grundlagenarbeit leisten. Sie beschaffen sich Unterlagen der Einwanderungsbehörden und Listen von Kriegsverbrechern, speichern die Daten in ihren Computern und gleichen sie miteinander ab. 1982 sind mehr als 200 Fälle für Ermittlungen identifiziert.

Plötzlich findet Lipschis seinen Namen in Zeitungen

Für Ryan soll ein Fall besondere Bedeutung erlangen. Er ist vergleichsweise gut dokumentiert, trägt das Aktenzeichen A 10 682 861 und handelt vom Angehörigen eines SS-Totenkopfverbandes. Dem Mann wird vorgeworfen, im KZ Auschwitz an der “Verfolgung von Gefangenen” mitgewirkt, diese “befohlen” oder zumindest “angeregt” zu haben.

Es ist der Fall Hans Lipschis.

Der damals 62-Jährige, der seit einem Vierteljahrhundert in den USA lebt, hat sich nicht träumen lassen, dass die amerikanische Justiz seine Zeit im Konzentrationslager unter die Lupe nehmen könnte. Mehr noch, plötzlich kann Lipschis seinen Namen in Zeitungen finden, selbst die “New York Times” berichtet über ihn. Und auf einmal steht sogar ein Reporter der Nachrichtenagentur AP vor seinem Haus im Südwesten Chicagos. Lipschis verweigert das Gespräch.

Der geborene Litauer, der in den Vereinigten Staaten als dauerhaft ansässiger Ausländer lebt und nach wie vor seinen deutschen Pass hat, wird für OSI-Chef Ryan plötzlich zum prominentesten Fall. Dabei wäre Amerikas oberster Nazi-Jäger zunächst lieber mit den Namen von bekannteren Personen in die Öffentlichkeit gegangen, um für die Arbeit seines umstrittenen Office of Special Investigations zu werben.

Ryan will Lipschis’ Ausweisung erreichen

Da ist der Fall von Valerian Trifa, dem Erzbischof der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, einem Antisemiten und Faschisten, der in Bukarest gewalttätige Exzesse gegen jüdische Bürger mitorganisiert haben soll. Doch an kommunistische Staaten wollen die USA selbst solche mutmaßliche Kriminelle nicht ausweisen, und die angefragte Schweiz lehnt eine Aufnahme Trifas ab.

Oder da ist der Fall des Raketenspezialisten Arthur Rudolph, der mit Wernher von Braun zusammengearbeitet hat. Das ehemalige Ex-NSDAP- und SA-Mitglied, von der Nasa mit der höchsten Verdienstmedaille ausgezeichnet, wird von Ryans Mitarbeitern zu seiner Rolle bei der Behandlung von Zwangsarbeitern im thüringischen KZ Mittelbau-Dora, wo die berüchtigten “Vergeltungswaffen” V1 und V2 hergestellt worden sind, befragt. Nach der dritten Vernehmung legt Rudolph seine US-Staatsbürgerschaft ab und geht in die Bundesrepublik.

Und so rückt nun – statt dem Kirchenmann Trifa oder dem Forscher Rudolph – der inzwischen pensionierte Industriearbeiter Lipschis ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Er kann in den USA strafrechtlich nicht belangt werden, denn vor amerikanischen Gerichten dürfen von Ausländern im Ausland verübte Verbrechen nicht angeklagt werden.

Bundesanwalt Ryan will darum Lipschis’ Ausweisung erreichen. Dazu trägt er am 8. Juni 1982 seine Ermittlungsergebnisse dem Einwanderungsgericht in Chicago vor. Der Vorwurf: Lipschis habe bei der Einreise seine Vergangenheit als SS-Mann und KZ-Aufseher verschwiegen und halte sich deshalb unrechtmäßig in den USA auf.

Der Richter Anthony Petrone räumt Lipschis eine Frist von fünf Wochen ein, um sich zu erklären. Dieser will keineswegs kampflos aufgeben. Er engagiert den Anwalt Paul Zumbakis, dem es mit Hinweis auf den angeblich schlechten Gesundheitszustand seines Mandanten gelingt, monatelang eine Entscheidung hinauszuzögern.

Er setzt auf Hilfe aus Ost-Berlin

Ryan könnte jetzt den Aktendeckel schließen. Doch so ist der Mann, der einen Vollbart trägt und im Büro meistens sein Sakko ablegt, nicht gestrickt. Er will im Detail wissen, was Hans Lipschis in Auschwitz getan hat. Dazu greift er zu unkonventionellen Mitteln, die verdeutlichen, warum der OSI-Chef die amerikanische Nation derart polarisiert.

Geht es um die Verfolgung von Nazi-Tätern, schreckt Ryan nicht davor zurück, mit kommunistischen Regimen zu kooperieren. Für manche Amerikaner, die sich Anfang der 80er-Jahre noch mitten im Kalten Krieg wähnen, ist das ein Tabubruch. Ryan reist für eine Recherche sogar nach Moskau und überzeugt dort die Machthaber davon, seinem mitgereisten Team Interviews mit Überlebenden der NS-Schreckensherrschaft zu gestatten und diese Gespräche per Kamera aufzuzeichnen, als Beweismittel für in den USA laufende Verfahren.

Um die Verstrickung von Lipschis aufzuklären, setzt Ryan auf Hilfe aus Ost-Berlin. Allerdings beschreitet er dabei den förmlichen Weg. Am 22. Oktober 1982 stellt die US-Botschaft in der DDR dem Außenministerium die Note Nr. 487 zu.

Viel finden die Fahnder der DDR nicht heraus

In dem US-Rechtshilfeersuchen heißt es, der mutmaßliche Kriegsverbrecher Lipschis “ist im Herbst 1941 in die SS eingetreten und diente in den Lagern Auschwitz I und Auschwitz II (,Birkenau’) fortgesetzt von Oktober 1941 bis zum Januar 1945″. In diesem Zusammenhang sei das Office of Special Investigation “an Einzelheiten interessiert, ob Lipschis am Wach- und Rampendienst in Auschwitz teilgenommen hat. Er ist auch verdächtig, am Todesmarsch der Häftlinge des Lagers im Januar 1945 teilgenommen zu haben.”

Darüber hinaus erbitten die Amerikaner “Informationen über die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in den SS-Küchen in Birkenau und über die Pflichten der dort eingesetzten SS-Angehörigen (einschließlich derjenigen, die sie außerhalb der Küchen hatten)”.

Das Ost-Berliner Außenministerium reicht die Note umgehend an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR weiter, die sie ins Deutsche übersetzt und den Vorgang mit dem Aktenzeichen 243-47-82 versieht. Am 25. November 1982 verfügt die Generalstaatsanwaltschaft nach internen Beratungen: “Es besteht Übereinstimmung, dass zunächst die USA-Note zu beantworten ist … Danach sollte der Generalstaatsanwalt der UdSSR informiert werden.”

Einen Tag später übergibt das Außenministerium der DDR der US-Botschaft Ost-Berlin das Antwortschreiben. Viel haben die ostdeutschen Fahnder allerdings nicht herausgefunden. Befragte Zeugen hätten darauf verwiesen, “dass jene SS-Angehörigen, die an Selektionen an der Rampe teilgenommen haben oder Funktionen während der Evakuierungsmärsche bekleidet haben, den Häftlingen weitgehend namentlich unbekannt geblieben sind”. Um weiter recherchieren zu können, bittet die DDR um “Lichtbilder des Betroffenen – möglichst älteren Datums”. Auch zum Thema SS-Küche kann Ost-Berlin mit keinerlei Erkenntnissen aufwarten.

Lipschis verlässt seine Wahlheimat heimlich

Insgesamt 23 Blatt Papier umfasst die Akte der DDR-Generalstaatsanwaltschaft zu dem Kontakt mit den Amerikanern. Das Material lagert heute im Bundesarchiv und war bis vor Kurzem gesperrt. In der vergangenen Woche konnte die “Welt am Sonntag” die historisch aufschlussreichen Dokumente einsehen. Ihnen ist auch zu entnehmen, wie sich die Causa Lipschis in den Vereinigten Staaten weiterentwickelt.

Einen Tag vor Heiligabend, am 23. Dezember 1982, ordnet US-Richter Petrone vom Chicagoer Einwanderungsgericht an, dass Hans Lipschis die Vereinigten Staaten binnen 120 Tagen zu verlassen habe. Stichtag ist damit der 21. April 1983. Für diesen Tag reservieren die US-Behörden für Lipschis einen Platz für einen Flug nach Deutschland. Doch der 63-Jährige verlässt seine amerikanische Wahlheimat heimlich schon eine Woche vorher, offenbar will er nicht am Flughafen von wartenden Journalisten abgefangen werden.

Die Reporter wenden sich daraufhin an seinen Anwalt Zubakis, der allerdings die Ankunft seines Mandanten in der Bundesrepublik nicht bestätigen kann und lediglich mitteilt: “Er ist nach Europa gegangen.” Der Jurist prangert zugleich den Umgang der Justiz mit Lipschis an, der ein “alter, kranker Mann” sei und den Zumbakis zu einem Opfer der “McCarthyismus”-Taktik des Office of Special Investigations stilisiert. Eine unangemessene Polemik. Der US-Senator Joseph McCarthy hatte in der Frühphase des Kalten Krieges gnadenlos vermeintliche Kommunisten und deren Sympathisanten mit teilweise rechtsstaatlich unlauteren Methoden verfolgt. Bei Lipschis und ähnlichen Fällen aber geht es um die reichlich späte Ausweisung von Kriegsverbrechern.

Jahrzehntelang ist Ruhe

Trotz solcher ehrenrühriger Vergleiche genießt Ryan A. Allan den Erfolg seiner Behörde im Fall Lipschis, über den Medien weltweit berichten. Der Nazi-Jäger lässt es sich nicht nehmen, der DDR für ihre Bemühungen zu danken. In einer neuerlichen diplomatischen Note vom 6. Mai 1983 heißt es, Lipschis sei in der Bundesrepublik angekommen und “somit die erste Person, die in den letzten 30 Jahren aus den USA ausgewiesen wurde, weil sie der Teilnahme an Nazi-Verbrechen beschuldigt wird”.

Ein Jahr später erscheint Ryans Buch “Stille Nachbarn. Die Strafverfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern in den USA” (“Quiet Neighbours. Prosecuting Nazi War Criminals in America”). Darin beklagt der energische US-Bundesanwalt mangelnden Enthusiasmus seiner westdeutschen Kollegen: “Ein Land, das dies oder jenes so getan hat, könnte den Mann in jedem Fall vor Gericht bringen (und die Bundesrepublik hat unsere Akte zu Lipschis angefordert und erhalten).”

Ebendies geschieht nicht – jahrzehntelang ist Ruhe.

Urteil gegen Demjanjuk

Bevor deutsche Staatsanwälte gegen Hans Lipschis ermitteln, vergehen fast 30 Jahre. Das liegt vor allem an juristischen Grundsatzfragen. Nach der gängigen Interpretation des geltenden Strafrechts können nur konkrete Verbrechen geahndet werden, die einem Beschuldigten zweifelsfrei nachgewiesen werden und die zum Zeitpunkt der Tat strafbar waren. Mit beiden Prämissen haben bundesdeutsche Strafgerichte immer wieder zu kämpfen. Denn zwar ist in den KZ jeder SS-Mann, von der einfachen Wache bis zum Kommandanten, eingebunden in ein mörderische System. Doch das allein genügt nicht für Anklage und Verurteilung.

Es müssen durch Dokumente oder Zeugenaussagen individuelle Straftaten nachgewiesen werden – die Beteiligung an Selektionen an der Rampe von Birkenau etwa oder Übergriffe gegen Häftlinge. So jedenfalls ist die Lage bis zum Mai 2011. Da nämlich fällt das Landgericht München das Urteil gegen den ukrainischen KZ-Wächter Iwan Demjanjuk. Wie Lipschis ist er nach dem Krieg in die USA ausgewandert, dort sogar US-Bürger geworden.

Als das Office of Special Investigations erfährt, Demjanjuk habe im Vernichtungslager Treblinka die Gaskammern bedient, wird er 1986 nach Israel ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt. Doch die Anklage erweist sich als falsch. Demjanjuk war nicht in Treblinka. Dafür aber im Vernichtungslager Sobibor. Doch weil das Auslieferungsbegehren sich nicht hierauf bezogen hat, darf Demjanjuk in die USA zurückkehren.

Erst 16 Jahre später, 2009, wird er erneut abgeschoben, diesmal nach Deutschland. Die Staatsanwaltschaft München klagt ihn wegen Beihilfe zum Mord in vielen Tausend Fällen an. Konkrete Beweise für Demjanjuks Rolle als Hilfswachmann im Vernichtungslager gibt es zwar nicht. Klar aber ist, dass Sobibor keinen anderen Zweck hatte als Massenmord. Das ist entscheidend für die Richter. In einem spektakulären Urteil, das fünf Jahrzehnte Rechtsprechung korrigiert, stellen sie fest: “Der Angeklagte war Teil der Vernichtungsmaschinerie.”

Der 93-jährige Demjanjuk wird wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Weil er allerdings zehn Monate später stirbt, wird das Münchner Urteil nicht mehr von höheren Instanzen überprüft. Es ist nicht rechtskräftig, aber auch nicht revidiert. Damit können Strafverfolger diese Bewertung zur Grundlage weiterer Anklagen machen.

Er weiß, was ihm vorgeworfen wird

Genau das geschieht nun im Fall Hans Lipschis. Seine Tätigkeit in Auschwitz ist immer bekannt gewesen. Doch erst durch die neuen Maßstäbe, die das Münchner Landgericht im Fall Demjanjuk aufgestellt hat, kann auch er angeklagt werden. Denn einzelne Verbrechen kann man ihm nicht zuordnen: Dokumente dazu gibt es nicht, ebenso wenig individuell belastende Zeugenaussagen. Fest steht nur, dass Hans Lipschis, geboren 1919 in Kretinga, Teil der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz war. Als Wachmann und als Koch.

Er weiß, was ihm vorgeworfen wird.

Seit Herbst 2012 ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Hans Lipschis. Es wäre, wenn es zur Anklage kommen sollte, nach dem Fall Demjanjuk der zweite Prozess gegen einen KZ-Aufseher wegen Beihilfe zu Mord.

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Die Legende vom Koch

$
0
0

Die Legende vom Koch

Tausende Deutsche haben nach Kriegsende versucht, sich eines Teils ihrer Vergangenheit zu entledigen. Auch der SS-Mann Hans Lipschis hat die Jahre als KZ-Wächter aus seinem Lebenslauf getilgt. Dann holten sie ihn doch noch ein

Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endet, haben über 18 Millionen Soldaten und mindestens 28 Millionen Zivilisten ihr Leben verloren. Über sechs Millionen Juden, Roma und Sinti sind dem NS-Völkermord zum Opfer gefallen, der mit industriellen Methoden verübt wurde. Allein in Auschwitz wurden gut eine Million Häftlinge ermordet.

Der Tag der Kapitulation ist für den gebürtigen Litauer Hans Lipschis, der gut drei Jahre lang zum Stammpersonal des Konzentrationslagers Auschwitz gehörte, der Tag, von dem an er eine Legende braucht. Und er legt sich eine zurecht, so wie Tausende Kriegsverbrecher. Ihm und vielen anderen gelingt es damit, unbehelligt zu bleiben und sich nicht verantworten zu müssen, oft genug ein Leben lang.

In der vorigen Woche hatte die “Welt am Sonntag” über den Fall Lipschis berichtet und mit dem 93-jährigen Mann gesprochen, der von 1941 bis 1945 in dem KZ eingesetzt war – und zwar offenbar auch als Wachmann und nicht nur als Koch, wie er selbst sagt. Erst jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn. Erst jetzt könnte es zum Prozess kommen – der erste seit Demjanjuk.

Vieles spricht dafür, dass der SS-Rottenführer, der noch am 1.Januar 1945 auf der Personalliste von Auschwitz geführt wurde, seinen Lebenslauf bei Kriegsende weitgehend neu erfunden hat. Aus dem KZ-Wachmann Lipschis wurde ein bedauernswerter Frontsoldat, der die letzten sieben Kriegsmonate durchgängig auf dem Krankenlager zubringen musste; unter anderem in einem Hamburger Krankenhaus. Dorthin sei er im März 1945 gebracht worden, behauptet Lipschis. Zuvor, ab Oktober 1944, habe er bereits verletzt in Breslau gelegen. Einen in Akten dokumentierten Lazarettaufenthalt im bayerischen Altötting im Februar/März 1945 unterschlägt er. Und nicht nur den.

Richard von Weizsäcker hat den 8.Mai 1945 in seiner berühmten Rede einen Tag der Befreiung genannt, an dem ein Irrweg der deutschen Geschichte endete – einen Tag, der den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. Für Hans Lipschis muss der 8.Mai 1945 ein Tag der Angst gewesen sein. Er muss fortan fürchten, von seiner Vergangenheit als Rädchen im Getriebe der NS-Vernichtungsmaschine eingeholt zu werden. Lipschis will aber nicht enttarnt, er will nicht für das zur Verantwortung gezogen werden, was er in Auschwitz getan hat.

Anhand von Dokumenten aus dem Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen lässt sich rekonstruieren, wie er vorging. Das Archiv umfasst 50 Millionen Hinweise auf 17,5 Millionen Personen; eine ist Hans Lipschis, zu dem 23 Blatt erhalten sind. Sie zeigen, wie Lipschis seine Biografie (Link: http://www.welt.de/themen/biografien/) vor dem 8.Mai 1945 nachträglich schönt. Und sie zeigen sein Leben danach.

Von Mai bis August 1945 ist Lipschis britischer Kriegsgefangener in Heide/Holstein. Wie er in die britische Zone gelangte, lässt das ITS-Konvolut offen. Vielleicht wurde seine SS-Einheit in den letzten Kriegstagen nach Norddeutschland verlegt. Vielleicht wollte er sich vor den Amerikanern in Sicherheit bringen, denen der Ruf vorauseilte, NS-Täter besonders konsequent zu verfolgen.

Nach vier Monaten Gefangenschaft arbeitet Lipschis dann bei einem Bauern in Westfalen. Er bekommt 50 Reichsmark im Monat, Geld, mit dem man in der Nachkriegszeit wenig anfangen kann. Wichtiger ist für ihn, dass er freie Kost und Logis erhält. Denn vielerorts ist die Versorgung zusammengebrochen, zahlreiche Deutsche leiden Hunger. Trotzdem gibt Lipschis die Landarbeit auf. Er hat Sehnsucht nach seiner Familie, drei Schwestern leben in den westlichen Besatzungszonen.

Am 1. Juni 1946 meldet sich Lipschis in Schwarzenbek bei Hamburg in einem Lager für Displaced Persons (DP), also für Flüchtlinge fern ihrer Heimat. Millionen können damals nicht dorthin zurückkehren, woher sie kamen. Bei der Ankunft in Schwarzenbek muss Lipschis Auskunft über seinen Lebensweg geben. Seine Angaben werden auf einer Karteikarte, die mit “D.P.Registration Act” überschrieben ist, festgehalten. Auffällig ist, dass Hans Lipschis sich nun plötzlich wieder Antanas Lipsys nennt – sein litauischer Geburtsname. Und dass er behauptet, er sei litauischer Staatsbürger. Das ist eine Lüge.

Am 16. August 1941 hat er seine “Aufnahme in den deutschen Staatenverbund” beantragt. Um seine Verbundenheit mit Deutschland zu belegen, verwies er auf deutsche Abstammung mütterlicher- und väterlicherseits sowie auf seine Mitgliedschaft im Kulturverband der Deutschen Litauens. Anderthalb Jahre später erhält Lipschis die begehrte Einbürgerungsurkunde, ausgestellt vom Regierungspräsidenten in Posen am 27.Februar 1943. Damit erlischt seine litauische Staatsbürgerschaft.

In Schwarzenbek tritt Lipschis wieder als Litauer auf. Seine deutschen Personaldokumente hat er wohl vernichtet. Immerhin gibt er an, ein wenig Deutsch zu sprechen. Als er am 13.November 1946 den umfangreichen “Fragebogen für DP” ausfüllen muss, tut er dies in litauischer Sprache. Heikel ist für ihn die Frage 5 b: “Füllen Sie unten aus, welche Arbeit Sie verrichteten, wo und als was…für jedes angegebene Jahr (mit Anfang September 1939 bis Ende Mai 1945)”.

Lipschis schreibt wahrheitsgemäß, er habe 1941 seinen litauischen Geburtsort Kretinga verlassen und sei im deutschen Städtchen Flatow eingetroffen. Hingegen verschweigt er, dass er nur vier Monate später seinen Dienst als Wachmann im KZ Auschwitz angetreten hatte. Stattdessen will er sich erst im ostpreußischen Insterburg, dann im schlesischen Breslau und schließlich in Hamburg aufgehalten haben. Rekrutiert vom deutschen Heer, als Soldat, der in der Küche gedient habe (“soldier as cook”).

Diese 1946 in der Not der Befragung entstandene Legende ist offenbar zur Lebenslüge geworden. Von der “Welt am Sonntag” befragt, ob er in Auschwitz gewesen sei, antwortete Lipschis:

“Ja.”

“Als was?”

“Als Koch.”

“Als Koch?”

“Ja, als Koch, die ganze Zeit.”

Im November 1946, als er den DP-Fragebogen ausfüllen muss, ist von Auschwitz noch keine Rede. Lipschis präsentiert sich als Militärkoch und versichert mit seiner Unterschrift, dass diese Angaben richtig seien. Er setzt seinen Namen unter die Formel: “Ich schwöre, das meine obigen Angaben in Bezug auf Richtigkeit und Genauigkeit nach bestem Wissen und Gewissen gemacht sind.”

Aber Lipschis macht auch eine ihn kompromittierende Angabe. Er vermerkt auf dem Fragebogen seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS ab Oktober 1941. Ist das ein Moment der Wahrhaftigkeit oder kann er nicht anders, als es zuzugeben? Viele Angehörige der Waffen-SS trugen auf der Innenseite des Oberarms eine Tätowierung mit ihrer Blutgruppe. Gedacht, um bei Verwundung an der Front rasch medizinische Hilfe leisten zu können, wurde ihnen dieses Zeichen nach 1945 zum Kainsmal. Was würden wir sehen, wenn Lipschis den linken Ärmel hochkrempelte? Vermutlich ein “A” – der Buchstabe seiner Blutgruppe. In diesem Fall konnte er seine SS-Mitgliedschaft 1946 gar nicht leugnen.

Das Eingeständnis beschert ihm aber keine großen Probleme. Am 10.November 1947 vermerken die Briten zwar auf einer Karteikarte, Lipschis werde von den Russen gesucht (“For prosecution by Russian”). Doch darunter steht: “Frei von Strafverfolgung (“Free of prosecution”). Der KZ-Wächter hat es geschafft, ungeschoren von Auschwitz in die neue Zeit zu kommen – so wie Zehntausende andere, die während des NS-Regimes Schuld auf sich geladen haben.

Im September 1947 heiratet Lipschis eine Bekannte aus seinem Heimatort Kretinga. Da ist schon eine Tochter unterwegs, die im Februar 1948 zur Welt kommt. Nun lebt die junge Familie in einem Lager für Displaced Persons in Geesthacht bei Hamburg, wo sie zumindest bis Juli 1951 bleibt. Über die Zeit danach finden sich im Arolser Archiv keine Dokumente mehr. Nach Recherchen der “Welt am Sonntag” bekommt das Ehepaar im Jahr 1953 nochmals Nachwuchs, nun einen Sohn.

Drei Jahre später wandern Hans Lipschis, seine Frau und beide Kinder nach Amerika aus, am 18.Oktober 1956. Ein Passagierschiff bringt sie von Bremerhaven nach New York. Von dort gehen sie nach Chicago, wo Hans Lipschis ein Vierteljahrhundert lang unbehelligt lebt, nun wieder mit deutschem Pass. Erst im Sommer 1982 stoßen US-Behörden auf seine Vergangenheit als KZ-Wächter in Auschwitz – eine Entdeckung, die zu seiner Ausweisung aus den USA im April 1983 führt. Seine Frau geht mit nach Deutschland, ihre beiden Kinder bleiben in den USA. Der Sohn wird Fotograf und stirbt relativ früh. Die Tochter lebt bis heute in Chicago.

Der Artikel auf welt.de

 

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Russisch Roulette mit dubiosem Medienimperium

$
0
0

Russisch Roulette mit dubiosem Medienimperium

Der Deutsch-Russe Nicholas Werner hat sich in Berlin ein buntes Firmenimperium aufgebaut. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn: wegen Geldwäsche. Doch das ist nicht sein einziges Problem.

Von Christin Bohmann, Uwe Müller, Marc Neller und Julia Smirnova

Nicholas Werner steht in einem Saal, ein gedrungener Mann Mitte 40, schwarzes Jackett, schwarzes Hemd, inmitten seiner Gäste. Ein Gewirr aus Stimmen und Musik umgibt ihn. Es gibt Austern und Champagner; die Frauen sind jung, viele deutlich jünger als ihre Begleiter, viele sehr blond.

Werner hält ein Mikrofon in der Hand. Er wartet darauf, dass die Band verstummt, er hat etwas zu verkünden. “Ursprünglich”, sagt er, “ist die Welt schön. Die Menschen machen sie hässlich.” Was er tue, mache die Welt schöner und bunter. Plötzlich fahren Rollläden hoch, sie geben den Blick frei auf glitzernde Schaufenster.

Auf Ringe, Halsketten, Uhren, groß und schwer und funkelnd. Werner eröffnet ein Schmuckstudio, “Luxury Place”, einen Ort mit viel Gold und Marmor, einen Ort für reiche Russen. Also spricht er Russisch. Es ist Anfang März 2013, ein Abend in Werners Firmenzentrale im Berliner Süden.

Werner mag solche Inszenierungen. Ein neues Geschäft. Ein Foto mit der Bundeskanzlerin. Treffen mit Politikern. Lange ist er ein gern gesehener Gast der Bundesregierung gewesen. Sie hat ihn mehrfach zu Veranstaltungen ins Kanzleramt eingeladen, zu ihren Integrationsgipfeln zum Beispiel.

Von der Staatsanwaltschaft gesucht

Denn bisher sah es so aus, als sei Werner ein Musterbeispiel dafür, wie schnell man als Ausländer in Deutschland erfolgreich sein kann. Ein Mann, der wie aus dem Nichts ein Verlagsimperium geschaffen hat. Das Sprachrohr einer Gruppe, die Wahlen entscheiden kann: Russlanddeutsche.

Diesen Mann jagen nun Gläubiger und Staatsanwälte, Richter interessieren sich für ihn. In Werners Reich brennt es an allen Ecken und Enden. Die “Welt am Sonntag” hat Werners Geflecht aus rund einem Dutzend Firmen monatelang durchleuchtet. Werner hat viele Unternehmen gegründet, umbenannt und wieder dichtgemacht. Er ist merkwürdige Kreditgeschäfte in Millionenhöhe eingegangen. Und hat oft mit höchstem Risiko gespielt, eine Art russisches Roulette.

Viele Jahre lang ist das gut gegangen. Doch inzwischen haben sich die Bedingungen geändert. Die Behörden schauen bei Geld mit ungewisser Herkunft genauer hin. So macht die Europäische Union Jagd auf die Konten reicher Russen in Zypern, auf denen sie Schwarzgeld vermutet. Und in Berlin ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Werner. Es geht um einen schwerwiegenden Verdacht: Geldwäsche. Dafür kann es bis zu zehn Jahre Gefängnis geben.

Russischer Zeitungsverleger in Europa

Werner stellt sich üblicherweise als Verleger vor. Sein Verlag, die Werner Media Group, wirbt damit, “der größte russischsprachige Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Europas” außerhalb Russlands zu sein. Werner gibt die Wochenzeitung “Evropa-Ekspress” und das Regionalblatt “Berlinskaja Gazeta” heraus, die “Jüdische Zeitung”, Lifestyle-Magazine und eine Reihe anderer Hefte. Zusammen haben sie angeblich eine Auflage von rund einer halben Million.

So hat Werner sich den Zugang zur Politik gesichert. Denn er macht Meinungen für eine interessante Zielgruppe. In Deutschland leben viereinhalb Millionen Menschen mit russischen Wurzeln. Werner selbst schätzt, dass sie jedes Jahr 42 Milliarden Euro ausgeben. Er hat deshalb eine Reihe weiterer Firmen gegründet, Grundstücksgesellschaften und einen Supermarkt mit Krimweinen, russischen Büchern und wonach die russische Seele sonst so verlangt.

Frühere Mitarbeiter sagen, der Verlag diene in Wahrheit nur als Fassade, tatsächlich lebe Werner “vom Schwarzgeldzufluss aus kriminellen Quellen”. Es ist ein harter Vorwurf, für den es bislang keinen Beweis gibt.

Man würde gerne mit Werner darüber sprechen, warum solche Behauptungen über ihn in die Welt gesetzt werden. Und auch darüber, was er zu alldem sagt, den wirtschaftlichen Problemen, dem Ärger mit seinen Gläubigern und der Justiz. Doch ein Interview lehnt er ab. Einen umfangreichen Fragenkatalog beantwortet er nicht innerhalb der gesetzten Frist. “Herr Werner ist derzeit schwer krank und deshalb nur selten in Deutschland”, sagt seine Sekretärin.

Anfragen werden vertagt

Die Sekretärin bietet an, ihr Chef könne später schriftlich Auskunft geben. Dann kommen einige Antworten, aber nicht von Werner selbst. Der “Pressedienst des Verlegers” schickt eine Erklärung und Werners Rechtsanwalt einen Brief. Außerdem warnt ein Chefredakteur der Werner Media Group die “Welt am Sonntag” vor einer rufschädigenden Veröffentlichung “mit unbestätigten Behauptungen, lückenhaften Vorgängen und möglicherweise entwendeten Firmenunterlagen”.

Man versteht Werners Art, Geschäfte zu machen, besser, wenn man seine Vergangenheit kennt. Er wächst, 1968 in Moldawien geboren, als Sohn eines Deutschen auf der Krim auf. Er studiert Medizin, Wirtschaft und Politik, er steigt in den Boxring und kann sich eine Karriere als Tänzer vorstellen. Ende der 80er-Jahre wandert er über Israel in die USA aus, Anfang der 90er kehrt er nach Moldawien zurück. Russische Medien berichten später, Werner habe mit Eis gehandelt, eine Baufirma und eine Kasinokette gehabt.

Außerdem lernt er General Alexander Lebed kennen, eine russische Legende. Werner wird einer seiner engsten Mitarbeiter, er hilft ihm, einen Scharmützelkrieg zwischen der Republik Moldau und dem Möchtegernstaat Transnistrien zu beenden. Als Lebed Gouverneur der sibirischen Provinz Krasnojarsk wird, folgt ihm Werner und wird sein Stellvertreter. Er wird in die Aufsichtsräte mehrerer Großunternehmen berufen. Im Jahr 2001 ermittelt die Staatsanwaltschaft dann gegen zwei Beamte in der Region. Sie werden verdächtigt, eine Million US-Dollar veruntreut und den Betrag auf ausländische Konten Werners überwiesen zu haben. Werner bestreitet das.

Zahlungsflüsse werden untersucht

Wie sich die Geschichte manchmal wiederholt: Nun hegt die Berliner Staatsanwaltschaft den Verdacht, dass Werner Geld gewaschen haben könnte. “Wir untersuchen diverse Zahlungsflüsse”, sagt Behördensprecher Martin Steltner. Die Ermittlungen seien schwierig, Einzelheiten nennt er nicht. Er bestätigt allerdings, dass die Ermittler nicht nur Werner im Visier haben, sondern auch einen seiner engsten Vertrauten, Georgy Peredelskiy.

Werner kennt ihn seit Jahrzehnten, möglicherweise haben beide an der Seite des Generals Lebed gestanden, in dem Konflikt, aus dem die Transnistrische Moldauische Republik hervorgegangen ist – ein Marionettenregime am Rande Europas, das von keiner internationalen Organisation anerkannt wird. Werner pflegt beste Kontakte dorthin.

Werners Anwalt versucht, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin kleinzureden. Eine Geschäftsbank habe eine allgemeine Verdachtsanzeige erstattet. Dabei hätten sämtliche Zahlungsbewegungen einen rechtmäßigen vertraglichen Hintergrund. “Solche Anzeigen sind ärgerlich, aber leider in der heutigen Zeit besonderer Bankenvorsicht keine Seltenheit.” Der “Pressedienst des Verlegers” schreibt, die Berliner Staatsanwaltschaft habe schon mehrmals gegen Werner und seine Firmen ermittelt, immer wieder seien die Verfahren eingestellt worden. “Unsere Firmen arbeiten gesetzeskonform.”

Woher hat Werner das Geld?

Die Staatsanwälte werden eine Menge Arbeit haben, die Vorwürfe zu klären. Wenn man sich eingehend mit Werners Geschäften befasst hat, liegen einige Fragen auf der Hand: Woher hatte Werner das Geld, mit dem er in Deutschland seine Firmen gründete? Wie konnte er Geschäftsleute immer wieder dazu bringen, ihm Millionen zu leihen? Haben ihm sein Witz und seine Redegewandtheit geholfen, die vielen aufgefallen sind, die mit ihm zu tun hatten? Und was hat Werner mit dem Geld gemacht? Solche Fragen sind schwierig zu beantworten. Das liegt auch daran, wie Werner fast 20 Jahre lang seine Geschäfte betrieben hat.

Im Einwohnermelderegister steht, dass er im Februar 1996 seine erste Wohnung in Berlin bezogen hat. Im Juni 2001 wird sein erstes Unternehmen, der Verlag, ins Handelsregister eingetragen. Dann gründet Werner Firma auf Firma. Es passt nur nicht recht ins Bild des ehrbaren Kaufmanns, dass er viele wieder abwickelt, manche schon nach wenigen Monaten. Zudem wechseln Geschäftsführer, Firmenadressen und Gesellschafter häufig, teils auch die Namen der Firmen. Es ist ein schneller, ständiger, unübersichtlicher Wechsel. Aber es gibt Regeln. Eine ist, dass etwa eine Handvoll Menschen immer wieder auftauchen: als Geschäftsführer, Gesellschafter, Abwickler. Alte Bekannte Werners.

Falls Werner damit etwas vertuschen wollte, dann wäre ihm das über viele Jahre hinweg gelungen. Doch inzwischen sind einige Probleme unübersehbar. Selbst das Herz seiner Firmengruppe, die Werner Media Group GmbH, ist akut infarktgefährdet. Die Geschäftskonten sind bis auf den letzten Cent gepfändet. Mehrere Gläubiger, die hohe Forderungen haben, haben Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse bei einem Berliner Amtsgericht erwirkt.

Das Internetportal Debitcheck berichtet von “schwerwiegenden negativen Zahlungserfahrungen” und empfiehlt: “Bitte Vorauszahlung verlangen”. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform warnt: “Kredite werden abgelehnt. Von einer Geschäftsverbindung wird abgeraten.”

Hohe Forderungen von Gläubigern

Allein der russischen Geschäftsfrau Yulia P. schuldet die Firma 1.078.970,82 Euro, dazu kommen die seit Mai 2012 aufgelaufenen Zinsen und Kosten. So steht es in einem Dokument der Deutschen Bank. Einem anderen Gläubiger teilte die Berliner Sparkasse vor einem halben Jahr mit, dass für ihn wohl nichts zu holen sei.

“Es liegen bereits vorrangige Pfändungen in Höhe von 865.715,45 Euro vor, die der Befriedigung Ihrer Ansprüche entgegenstehen.” Es gibt auch offene Rechnungen. Allein die ehemalige Druckerei von Werners Verlag verlangt rund eine halbe Million Euro und hat ein Inkasso-Unternehmen eingeschaltet.

Dann sind da noch Menschen, die für den Verlag gearbeitet haben. Sie sagen, der Verlag zahle seit Dezember teilweise keine Gehälter mehr, im Januar habe er den meisten Journalisten gekündigt. Manche hätten jahrelang überhaupt kein Geld bekommen – oder weniger als vereinbart. “Die Buchhaltung kann man telefonisch nicht erreichen, Briefe bleiben unbeantwortet”, so erzählt es einer.

Viele sprechen kaum Deutsch, es fällt ihnen deshalb schwer, einen anderen Job in der Medienbranche zu finden. Sie haben Angst vor Werner, deshalb verzichten sie auf ihre Ansprüche. Eine seiner Journalistinnen allerdings ging vor das Arbeitsgericht. Der Verlag musste ihr rückständigen Arbeitslohn zahlen, 24.360 Euro plus Zinsen. Das war im März 2008.

Firmenname wird geändert

Und was macht Werner, als sich sein Verlag im März 2013 in einer aussichtslosen Lage befindet? Er ändert den Firmennamen. Aus der Werner Media Group wird die Wermon Media Group. Werner, Wermon. Drei getauschte Buchstaben, die Folgen haben. Gläubigern, die sich an die Firma unter dem alten Namen wenden, kann es passieren, dass sie ihre Briefe und die Post ihrer Anwälte als unzustellbar zurückbekommen.

“Keine von unseren Handlungen hat einen kriminellen Hintergrund”, so der “Pressedienst des Verlegers”. Die Wermon Media Group habe im Moment “keine Tätigkeit” und “kein Personal”, bezahle aber ihre Rechnungen und sei ausreichend mit Mitteln versorgt.

Es verwundert kaum, dass die Bundesregierung Werner nicht mehr einlädt. Die Bundeskanzlerin sei Herrn Werner nur “am Rande von Veranstaltungen begegnet”, sagt ein Regierungssprecher. Kein Politiker zeigt sich gerne mit einem Mann, den Staatsanwälte als mutmaßlichen Geldwäscher verdächtigen. Dabei hat der Vorzeigeunternehmer von einst nicht nur Ärger mit der Staatsanwaltschaft, sondern auch mit Gerichten. Es gibt zum Beispiel zwei Kreditgeschäfte, an denen sich zeigen lässt, was einen an seinen Geschäften stutzig machen kann.

Eines beschäftigt das Landgericht Berlin: Aktenzeichen 28 O 76/12. Die Angelegenheit wirkt auf den ersten Blick ein wenig kurios, sie ist für Werner aber gefährlich. Jurj E., ein reicher Russe, der in Dubai lebt, behauptet, er habe Werner in den Jahren 2004 und 2005 zwei Darlehen gewährt, insgesamt 1,2 Millionen Euro. Bis heute wartet E., dass Werner das Geld inklusive Zinsen endlich zahlt. Obwohl er Werner zwei Jahre länger Zeit gegeben habe als eigentlich vereinbart – bis 2011. Deshalb ist E. schließlich in Deutschland vor Gericht gezogen.

Darlehen an den Privatmann

Werner bestreitet, das Geld als Darlehen erhalten zu haben. Die Unterschrift unter dem Vertrag stamme überhaupt nicht von ihm, behauptet er. Ob er damit durchkommt? Das Landgericht hat ihn vor wenigen Tagen in einem Beweisbeschluss aufgefordert, Unterschriften und Schriftproben aus den Jahren 2004 bis 2009 vorzulegen, “jeweils zehn im Stehen und im Sitzen angefertigte”. Danach soll ein Gutachter die Proben bewerten.

E. will Werner das Geld als Privatperson geliehen haben. Sollte er recht bekommen, müsste Werner privat haften – und nicht eine seiner Firmen.

Und dann ist da noch ein zweites Darlehen von 2007. In diesem Fall geht es um sechs Millionen Euro. Dafür interessiert sich die Justiz bislang nicht. Auch hier wird man auf alte Bekannte Werners treffen. Offenbar treten sie immer dann auf den Plan, wenn er in Not ist.

Am 30. April 2007 schließt Nicholas Werner den Vertrag, der ihm diesen Kredit zusichert. Die Konditionen sind traumhaft: zehn Jahre Laufzeit, keine Zinsen. Das legt eine Kopie des Vertrags nahe, die der “Welt am Sonntag” vorliegt. Werner hat gleich zweimal unterschrieben: als Geschäftsführer der kurz zuvor gegründeten Werner Group GmbH & Co. KG, die die sechs Millionen verleiht. Und als Privatmann Nicholas Werner, der das Darlehen bekommt.

Zweifelhafte Herkunft des Geldes

Die “Welt am Sonntag” hat Werner Fragen dazu gestellt, ohne die erwünschten Auskünfte zu bekommen. Allerdings spricht alles dafür, dass der Darlehensvertrag echt ist. Denn in der Bilanz der Gesellschaft für das Jahr 2007 sind exakt sechs Millionen Euro verbucht. Und zwar als Forderungen mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr. Der Kredit entspräche auch dem Geschäftszweck der Firma, die “genehmigungsfreie Finanzdienstleistungen” erbringt.

Doch woher kommen diese sechs Millionen Euro? Und durfte der Geschäftsführer Werner das Geld so ohne Weiteres an den Privatmann Werner verleihen? Ist die Gesellschaft nicht alleine durch den Verzicht auf die marktüblichen Zinsen erheblich geschädigt worden? Lässt sich das Darlehen möglicherweise als versteckte Gewinnausschüttung deuten, für die keine Steuern an das Finanzamt abgeführt worden sind? Auch dazu: keine Antwort von Werner.

Mit dem Kredit hören die Merkwürdigkeiten in der Firma noch nicht auf. Im August 2009 scheidet Werner aus der Gesellschaft aus. Seinen Kommanditanteil in Höhe von 10.000 Euro übernimmt jener Mann, der seit langer Zeit wie ein Schatten an ihm klebt: Georgy Peredelskiy, gegen den jetzt, 2013, die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt. Menschen, die Werners Unternehmen kennen, erzählen heute, Peredelskiy sei damals sein Bodyguard gewesen, heute wohne er teilweise in Werners Firmenzentrale.

Was Peredelskiy mit der Firma anfängt, bleibt unklar. Fest steht, dass er wie schon Werner keine Jahresabschlüsse veröffentlicht – möglicherweise verstößt das gegen die Offenlegungspflicht. Im Sommer 2011 aber gibt es plötzlich alle Abschlüsse auf einmal. Vielleicht deshalb, weil jetzt auch Peredelskiy seinen 10.000-Euro-Anteil weiterreichen will. Er weiß auch schon, an wen. Zum Notar begleitet ihn der nächste Mann aus Werners alter Heimat: Ghenadi Gorelovschi.

64 Euro liquide Mittel

Den deutschen Behörden gegenüber gibt Gorelovschi an, er wohne in Tiraspol, der Hauptstadt der Transnistrischen Moldauischen Republik. Doch laut seinem “Odnoklassniki”-Profil – einer Art Facebook – lebt er in Liechtenstein. Die ehemalige Werner Group GmbH & Co. KG firmiert heute als Gorelgen Holding GmbH & Co. Verwaltungs KG.

Und nun, im Mai 2013, stellt sich die Frage, was das noch für eine Firma sein soll. Die letzte verfügbare Bilanz weist für Ende 2011 ganze 64 Euro als liquide Mittel aus. Dafür hat die Firma 18,6 Millionen Euro Schulden. Und Forderungen in Höhe von knapp zehn Millionen Euro, darunter möglicherweise das Darlehen für Werner. Man wüsste gerne, was Gorelovschi mit der Gesellschaft vorhat. Ob er überhaupt noch etwas mit ihr vorhat.

Gorelovschi ist unter einer moldawischen Handynummer zu erreichen. Er ist offenkundig überrascht und bittet darum, ihm alle Fragen zu mailen. Anders als Peredelskiy antwortet er. Das Unternehmen, das er gekauft habe, habe keinen einzigen Euro Schulden, “weder zum Zeitpunkt des Kaufs noch jetzt”. Der Abschluss von 2011, das seien “alte Informationen”. Wie und wann sein Freund Werner das Darlehen zurückgezahlt haben will, sagt Gorelovschi nicht.

Was Gorelovschi aber sagt, ist, dass er Werner und Peredelskiy “seit über 25 Jahren” kenne. “Wir verstehen uns ausgezeichnet.” Das ist auch der Eindruck, den Werner, Peredelskiy und Gorelovschi in russischen sozialen Netzwerken erwecken. Dort kann man die Männer gemeinsam auf Fotos sehen.

Die Welt sei schön, die Menschen machten sie hässlich. So hat es Werner gesagt, als er das neue Schmuckstudio einweihte. Was er tue, mache die Welt schöner und bunter. Es gibt viele, die ihm geglaubt haben.

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

KZ-Wächter Lipschis stand an der Rampe des Todes

$
0
0

KZ-Wächter Lipschis stand an der Rampe des Todes

Jetzt liegt der Haftbefehl vor: Der frühere SS-Mann soll in Auschwitz den Massenmord unterstützt haben – in 9515 Fällen. Er war demnach an den Selektionen nach der Ankunft Gefangener beteiligt.

Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Achim Bächle gilt als Spezialist für schwere Fälle. Der Stuttgarter Rechtsanwalt hat die Eltern des Amokschützen Tim K. aus Winnenden und die RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt verteidigt. In seinem heikelsten Verfahren stand er dem SS-Oberscharführer Josef Schwammberger bei: Der Kommandant mehrerer deutscher Zwangsarbeitslager im Distrikt Krakau wurde 1992 vom Landgericht Stuttgart wegen Mordes und Beihilfe zum Mord an 650 Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt. “Damals haben alle Zeitungen geschrieben, das sei das letzte große NS-Verfahren”, erinnert sich sein Verteidiger.

Ein Irrtum. Bächle, Jahrgang 1951, hat jetzt erneut ein Mandat in einem ähnlichen Verfahren, das schon vor dem Prozessauftakt für weltweites Aufsehen sorgt. Der Schwabe ist Wahlpflichtverteidiger des einstigen SS-Rottenführers Hans Lipschis. Der frühere Wächter im KZ Auschwitz sitzt seit zwei Wochen im Haftkrankenhaus Hohenasperg in Untersuchungshaft. Hier war einst auch Schwammberger untergebracht. Und wieder ist die Stuttgarter Schwurgerichtskammer zuständig.

Über die Verstrickung des heute 93 Jahre alten Lipschis hatte die “Welt am Sonntag” exklusiv am 21. April berichtet. Kurz vor seiner Festnahme sagte der gebürtige Litauer einem Reporter dieser Zeitung, er habe in Auschwitz “nur als Koch” gearbeitet. Vom barbarischen Geschehen in der größten Mordfabrik der Menschheitsgeschichte habe er lediglich aus Gesprächen mit Kameraden erfahren. Diese Darstellung allerdings hatte die “Welt am Sonntag” nach Recherchen in mehreren in- und ausländischen Archiven als Legende entlarvt.

Beteiligt an abscheulichen “Selektionen”

Das bestätigt nun auch der Haftbefehl gegen Hans Lipschis; die zehn Seiten umfassende Anordnung des Amtsgerichts Stuttgart vom 2. Mai liegt dieser Redaktion vor. Sie zeigt, was die Strafverfolger dem Beschuldigten genau vorwerfen: Beihilfe zum Mord in 9515 Fällen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ist ebenfalls davon überzeugt, dass Lipschis in Auschwitz nicht nur in der Küche eingesetzt war, sondern mutmaßlich auch an der berüchtigten Rampe.

Dort wurden die in Eisenbahnwaggons ankommenden Häftlinge selektiert: Wer dem äußeren Anschein nach zu alt oder zu jung, zu schwach oder zu krank für Zwangsarbeit war, wurde sofort in die Gaskammer geschickt.

Als die Züge ins Lager rollten, stand Lipschis’ Einheit laut Haftbefehl mindestens neun Mal an der Rampe. Jedenfalls hatte der Beschuldigte laut den Ermittlungen “zumindest Wachbereitschaft”. Beispielsweise, als in Auschwitz ein Gefangenentransport aus dem holländischen Westerborg eintraf und 796 Häftlinge umgehend ermordet wurden. Bei Transporten aus dem KZ Theresienstadt (1773 Morde), aus Berlin (200 Morde) und dem französischen Drancy (1090 Morde) soll Lipschis ebenfalls an den abscheulichen Selektionen beteiligt gewesen sein.

Insgesamt mindestens 9515 zerstörte Leben – eine schier unvorstellbare Zahl und doch nicht einmal ein Prozent aller Opfer des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Auch wenn das zynisch klingt: Für einen eventuellen Schuldspruch spielt die Zahl der Toten eine untergeordnete Rolle. Für Mord gibt es unabhängig davon “lebenslänglich”, für Beihilfe zum Mord mehrjährige Haftstrafen – aber addiert werden einzelne Strafen nicht.

Selbst als Koch machte sich Lipschis schuldig

Lipschis war nachweislich von Oktober 1941 bis Januar 1945 in Auschwitz; die ersten 23 Monate als Aufseher, anschließend 16 Monate lang in der Küche für das SS-Personal. Selbst als Koch hat er sich aus Sicht der Strafverfolger schuldig gemacht, weil er auch in dieser Funktion objektiv das “Lagergeschehen insgesamt” gefördert habe. Im Haftbefehl heißt es dazu: Durch seine gesamte Tätigkeit habe er den Lagerbetrieb und damit das dortige Tötungsgeschehen unterstützt. Hungrige Massenmörder morden eben weniger effizient.

9515-facher gewaltsamer Tod: Das ist für alle Beteiligten an diesem Verfahren eine Herausforderung – den Verteidiger Bächle eingeschlossen. “In derartigen Verfahren muss man sehr sorgfältig und ruhig verteidigen. Dabei werde ich auch sensibel mit der Presse umgehen”, sagte er der “Welt am Sonntag”.

Der Anwalt weiß, dass ein Verteidiger in einem so bedeutsamen, international beachteten Verfahren leicht ins Zwielicht geraten kann, wenn er vehement die Interessen seines Mandanten wahrnimmt. Schnell kommt dann der Eindruck einer tatsächlichen oder vermeintlichen Nähe zum Beschuldigten auf. Bächle betont deshalb fast staatstragend: “In einem solchen Prozess repräsentiere ich als Anwalt auch den deutschen Rechtsstaat.”

Bächle, dem die Ermittlungsakten bislang noch nicht vorliegen, konnte am Donnerstag dieser Woche erstmals seinen Mandanten im Haftkrankenhaus besuchen. Mit ihm sprach er zwei Stunden lang über die Tatvorwürfe. Dabei hatte er sich von einer Dolmetscherin begleiten lassen. Zwar hat Lipschis als “Volksdeutscher” bereits 1943 einen deutschen Pass erhalten, doch zu Hause fühlt er sich noch immer in der litauischen Sprache.

Mit der Anklage rechnet Bächle nicht vor August; der Prozess könne dann vielleicht im Herbst beginnen. Das entspräche der Gesetzeslage, denn in der Regel soll eine Hauptverhandlung innerhalb von sechs Monaten nach der Inhaftierung des Beschuldigten beginnen. “Ob mein Mandant dann noch verhandlungsfähig ist, bleibt offen”, sagt Bächle.

Ist das Verfahren gegen einen Greis überhaupt sinnvoll

Falls es zum Prozess kommt, stellen sich viele Fragen: Kann man einen Mann, der zum Tatzeitpunkt Anfang 20 war, strafrechtlich für vieltausendfachen Mord verantwortlich machen? Ist es überhaupt sinnvoll, mehr als 68 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers noch ein solches Verfahren gegen einen Greis zu führen?

Ohne Zweifel war Hans Lipschis nur ein Mitläufer, das letzte Glied am Ende der Befehlskette. Aber die NS-Vernichtungsmaschinerie hätte ohne die vielen kleinen Rädchen nicht funktionieren können. Seit das Landgericht München im Mai 2011 John Demjanjuk, den ukrainischen Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor, wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen verurteilt hat, reicht bereits die nachweisliche Anwesenheit in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager für einen Schuldspruch. Selbst wenn dem Angeklagten keine konkreten strafbewehrten Taten nachgewiesen werden können.

Doch Auschwitz war eben nicht nur Vernichtungs-, sondern auch Zwangsarbeitslager. Das Geschehen dort ist aus strafrechtlicher Sicht komplizierter als in Sobibor. Um Lipschis dennoch eine Beihilfe zum Massenmord juristisch relevant nachweisen zu können, konzentriert sich die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf einige wenige Deportationen und Massenvergasungen.

Noch schwieriger ist wohl die Frage nach dem höheren Sinn eines solchen Verfahrens. Denn die üblichen Erklärungen für die Verhängung einer Strafe greifen bei einem über 90-Jährigen nicht mehr – er braucht nicht mehr von einer möglichen Wiederholung seiner Taten abgeschreckt zu werden; und sühnen kann er nach einem ganzen Menschenleben seine Rolle als SS-Mann auch nicht mehr wirklich.

Ermittelnder Ankläger reiste nach Auschwitz

Sein Verteidiger macht es sich durchaus nicht leicht. Einerseits stellt Bächle fest: “Hans Lipschis ist ein alter Mann, der seit dem Kriegsende geordnet gelebt und niemand etwas zuleide getan hat. Da stellt sich schon die Frage: Was soll nach so langer Zeit eine Anklage?” Andererseits räumt er ein: “Ein Gutes hat so ein Verfahren auch. Von ihm geht eine Botschaft aus: ,Wehret den Anfängen!’ Die Gesellschaft muss zeigen, dass sie alles tut, damit sich so etwas nicht wiederholt.”

Leicht gemacht hat es sich die Staatsanwaltschaft Stuttgart ebenfalls nicht. Nach Informationen der “Welt am Sonntag” war der ermittelnde Ankläger Mitte Januar in Auschwitz, um sich vom Tatort ein Bild zu machen – obwohl der Massenmord dort nach mehreren großen Prozessen aktenkundig ist und zahlreiche Studien dokumentieren, wie die Menschenvernichtung in Birkenau ablief.

Trotzdem werden diese Verbrechen im kommenden Prozess gegen Hans Lipschis noch einmal eine zentrale Rolle spielen. Denn bevor ein Beschuldigter wegen Beihilfe zu einer Straftat verurteilt werden kann, muss zuerst die Haupttat selbst gerichtsfest nachgewiesen werden – auch wenn die Haupttäter schon lange nicht mehr leben.

Wahrscheinlich werden sich Anklage, Verteidigung und Gericht noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen müssen: Warum hat es so lange gedauert, bis die Handlanger des Holocaust in den Blick der deutschen Justiz gerieten? Warum geht insbesondere die Zentrale Stelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg erst jetzt gegen die letzten mutmaßlichen Täter von Auschwitz vor? Warum haben die dortigen Staatsanwälte nicht schon viel früher Vorermittlungen eingeleitet, gegen Lipschis etwa nach seiner Abschiebung aus den USA, wo er von 1956 bis 1983 gelebt hatte?

Neuer Anfang nach dem Demjanjuk-Urteil

Natürlich wird Achim Bächle hier ansetzen: “Das Vorgehen der Zentralen Stelle überzeugt mich nicht. Warum werden diese Fälle erst jetzt aufgegriffen? Wenn man der Auffassung ist, es komme nicht auf den Nachweis einer konkreten Tathandlung an, hätte man viel früher handeln und gegebenenfalls anklagen müssen.” Jedenfalls hätte man aus Sicht des Verteidigers nicht abwarten dürfen, bis ein Gericht den Fall John Demjanjuk entschieden hatte.

“Diese Meinung kann man vertreten”, gibt Thomas Will zu. Der stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle sagt: “Wir haben uns anders entschieden und nach dem Demjanjuk-Urteil begonnen.” Das sei ein neuer Anfang. “Wir haben uns von einer Fessel befreit, die wir selbst nicht mehr gespürt hatten”, meint Will selbstkritisch. Noch zeichne sich nicht ab, was die Gerichte und auch die Gesellschaft von solchen Verfahren halte.

Unabhängig davon will die Zentrale Stelle in den nächsten drei Monaten Vorprüfungen gegen 49 weitere ehemalige KZ-Wächter in Auschwitz abschließen und die Fälle an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgeben.

Doch dabei soll es nicht bleiben, sagt Will: “Unsere Vorermittlungen konzentrieren sich nicht nur allein auf die KZ-Wärter in Auschwitz, sondern auch auf die Aufseher anderer Konzentrationslager, die zumindest zeitweise zur Vernichtung dienten.” Um wie viele Beschuldigte es geht, verrät Will nicht: “Für konkrete Zahlen ist es, auch weil die Beweis- und Rechtslage teilweise schwieriger ist, noch zu früh.”

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Wie ein Verleger gegen unsere Enthüllung vorgeht

$
0
0

Wie ein Verleger gegen unsere Enthüllung vorgeht

Der Berliner Verleger Nicholas Werner und sein Firmenimperium, diese Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben. Zum einen, weil Werner sich ungewöhnlich heftig und mit zahlreichen falschen Behauptungen gegen unsere Berichterstattung wehrt. Zum anderen, weil unsere Recherchen seit der ersten Veröffentlichung einige interessante neue Erkenntnisse ergeben haben. Dazu zeigen wir – hier exklusiv – eine Reihe von Dokumenten. Doch der Reihe nach.

Von Uwe Müller und Marc Neller

 

I. Worum es geht

Die „Welt am Sonntag“ hat am 12. Mai 2013 in dem Stück „Russisches Roulette“ die fragwürdigen Geschäftspraktiken des Verlegers und Kaufmanns Nicholas Werner beschrieben. Werner, ein Deutsch-Russe mit bewegter Vita, hat in Berlin den nach eigener Darstellung „größten russischsprachigen Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Europas außerhalb der ehemaligen GUS-Staaten“ aufgebaut und eine Vielzahl von Firmen mit ganz unterschiedlichen Tätigkeitsprofilen gegründet. Mehrfach wurde er ins Kanzleramt zu den nationalen Integrationsgipfeln der Bundesregierung geladen.

Verleger Werner (Foto: Picture-Alliance/dpa)

Verleger Werner (Foto: Picture-Alliance/dpa)

Jetzt steht der vermeintlich erfolgreiche Unternehmer im Zwielicht. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen ihn wegen des Verdachts der Geldwäsche. Gegen seinen Verlag liegen mehrere Pfändungsbeschlüsse eines Berliner Amtsgerichts vor. Auch das Berliner Landgericht beschäftigt sich mit dem heute 44-Jährigen, der sich im Zusammenhang mit einem Kreditgeschäft als Beklagter verantworten muss. Wie die „Welt am Sonntag“ darüber hinaus berichtete, hat Werner bereits in der Vergangenheit immer wieder zu Methoden gegriffen, die erhebliche Zweifel an seiner Seriosität begründen.

Solch einen Beitrag wollte Nicholas Werner offenbar verhindern. Jedenfalls schrieb sein Chefredakteur Michail Goldberg kurz vor der Veröffentlichung einen Brief an Jan-Eric Peters, den Chefredakteur der „Welt“-Gruppe. Der Journalist behauptete in dem Schreiben, der geplante Artikel ziele darauf ab, Werner und seine Zeitungen „in den Dreck“ zu ziehen: „Wir haben schon mehrere Gerichtsprozesse diesbezüglich geführt, die zum großen Teil zu unseren Gunsten ausgegangen sind.“ Goldberg vermutet außerdem, die „Welt am Sonntag“ lasse sich von Werners Konkurrenten instrumentalisieren und spricht von einer „Aktion“, deren größten Profiteure im „Kreml“ und im „antisemitischen Milieu“ zu suchen seien. Dann erfolgt erneut der Hinweis auf „Rechtsmittel“, zu denen Werners Verlag wohl greifen werde, und der Schlusssatz an Chefredakteur Peters: „Ich bin mir auf jeden Fall sicher, dass Ihre Professionalität und Berufserfahrung ausreichende Garantie dafür sind, dass Sie die richtige Entscheidung treffen.“

Der Artikel erschien natürlich wie geplant.

Werners Verlag reagierte prompt: „Selbstverständlich leiten wir jetzt gerichtliche Schritte ein“, hieß es auf der Website. Werner will in dem „Informationskrieg“ (so nennt das sein Verlag) bis „zu einem endgültigen Sieg“ kämpfen. Er habe bereits Strafanzeige „wegen Verleumdung und unlauteren Wettbewerbs“ erstattet. Sollte er dabei durch die Entscheidungen der deutschen Gerichte nicht zufriedengestellt werden, habe er die feste Absicht, sich auch im Ausland „mit diesen Zeitungsschreibern und den Zeitungen gerichtlich auseinanderzusetzen“.

"Welt am Sonntag", "Jüdische Zeitung": Wer verdreht die Fakten?

“Welt am Sonntag”, “Jüdische Zeitung”: Wer verdreht die Fakten?

Bemerkenswert ist auch, wie Nicholas Werner Axel Springer, die „Welt am Sonntag“ und die Autoren von „Russisches Roulette“ auch mit Veröffentlichungen in seinen Medien und auf Facebook angreift. Dabei macht er allerdings etliche irreführende und falsche Angaben. Schon Werners Versuch, die Berichterstattung über ihn ins Licht einer „schlecht getarnten antisemitische Kampagne“ zu rücken, ist unsinnig. Bekanntermaßen haben die Journalisten der Axel Springer AG die Aussöhnung mit dem jüdischen Volk sogar in ihren Arbeitsverträgen stehen.

Das Investigativ-Ressort der „Welt“-Gruppe hat sich angesichts der Vorwürfe entschlossen, in der Causa Nicholas Werner den Verlauf der bisherigen juristischen Auseinandersetzung ausführlich zu dokumentieren. So kann sich jeder selbst ein Bild machen.

II. Das juristische Vorgehen Werners

Neun Tage nach Erscheinen des Stücks „Russisches Roulette“ ging in der Rechtsabteilung von Axel Springer ein Schreiben von Werners Anwälten ein. Darin heißt es, der Beitrag in der „Welt am Sonntag“ verletze gleich in mehrfacher Hinsicht die Persönlichkeitsrechte des Mandanten. Der Anlass der Berichterstattung – unter anderem das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche – wird als „nichtig“ bezeichnet. Der Artikel stelle das Lebenswerk Werners in Frage. Er sei nicht nur ruf-, sondern auch geschäftsschädigend. Zahlreiche, auch internationale Zeitungen hätten die Darstellung der „Welt am Sonntag“ ungeprüft übernommen.

Nach Darstellung von Werners Kanzlei färbt der Bericht der „Welt am Sonntag“ über die schlechte Bonität von Werners Verlag auch auf die anderen Unternehmungen des Mandanten ab und schädige so deren Ruf nachhaltig. Werners Kanzlei teilt deshalb mit, man behalte sich die Geltendmachung materieller Schadenersatzansprüche ausdrücklich vor. Hierzu stellen wir fest: Bislang hat Nicholas Werner keine Schadenersatzansprüche geltend gemacht.

Werners Kanzlei behauptet außerdem, die „Welt am Sonntag“ habe zahlreiche unwahre Tatsachenbehauptungen über ihren Mandanten verbreitet. Ihm stünde in insgesamt neun Punkten ein Unterlassungsanspruch zu. Das ist ebenfalls falsch. Die „Welt am Sonntag“ hat inzwischen die Ansprüche geprüft und ihre Darstellung in lediglich einem Punkt berichtigt.

Ursprünglich hatten wir geschrieben: „Zudem wechseln Geschäftsführer, Firmenadressen und Gesellschafter häufig.“ Tatsächlich wechseln oft die Firmierungen der Unternehmen, nicht aber die Firmenadressen. In der berichtigten Version heißt es nun: „Zudem wechseln Geschäftsführer und Gesellschafter häufig.“ Diese kleine Korrektur in dem doppelseitigen Beitrag hätten wir auch ohne Androhung juristischer Schritte vorgenommen. Zudem war – allerdings nur in der Online-Variante des Textes – im Produktionsprozess eine Zwischenzeile eingefügt worden, wonach Werner von der Staatsanwaltschaft „gesucht“ werde. Richtig ist: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn. Die Zwischenzeile wurde sofort nach dem Hinweis von Werners Kanzlei ersatzlos gestrichen.

Internationale Beachtung: Die Deutsche Welle und andere Medien berichteten über die Recherchen der "Welt am Sonntag"

Internationale Beachtung: Die Deutsche Welle und andere Medien berichteten über die Recherchen der “Welt am Sonntag”

In den sieben übrigen Punkten hat sich Axel Springer geweigert, die geforderten Unterlassungen abzugeben. Daraufhin hat Werner von sich aus einen Punkt zurückgezogen: In dem Stück „Russisches Roulette“ heißt es, manche Journalisten Werners hätten „jahrelang“ kein Geld bekommen. Diese Darstellung kann die „Welt am Sonntag“ mit Dokumenten, darunter sogar einem Gerichtsurteil, belegen. Das wusste wohl auch Werner, dessen Kanzlei deshalb beim Landgericht Berlin nur noch in sechs Punkten „den Erlass einer einstweiligen Verfügung, der Dringlichkeit wegen ohne mündliche Verhandlung“ beantragte.

Das Landgericht Berlin hat jedoch, wie sich aus einer Mitteilung vom 30. Mai ergibt, in keinem der Punkte eine einstweilige Verfügung erlassen. Daraufhin überarbeiteten Werners Anwälte ihren Antrag, konnten damit die Richter aber offenbar erneut nicht überzeugen. Ob zwischenzeitlich ein erneuter Verbotsantrag gestellt wurde, ist uns derzeit nicht bekannt. Doch ganz unabhängig davon: Werner greift keinen einzigen wesentlichen Inhalt des Artikels an, was einer Bestätigung unserer Recherchen gleichkommt. Wir werden unsere Leser über den Fortgang des Rechtsstreits informieren.

Auch bei seinen Gegendarstellungsansprüchen hat Werner inzwischen einen Teilrückzug angetreten. Zunächst hatte er von der „Welt am Sonntag“ den Abdruck einer Gegendarstellung mit fünf Punkten verlangt, jetzt sind es nur noch drei Punkte. Bei Gegendarstellungen geht es ohnehin nicht um Wahrheit oder Unwahrheit. Nach dem Gesetz muss sogar eine unwahre Gegendarstellung abgedruckt werden. Dem Betroffenen steht ein reines Entgegnungsrecht zu.

III. Das publizistische Vorgehen Werners

In der Juni-Ausgabe der „Jüdischen Zeitung“ – die Monatszeitung gehört mit dem „Evropa-Ekspress“ oder der „Berlinskaja Gazeta“ zu den Titeln des Verlags Werner Media – hat Nicholas Werner in einem ganzseitigen Interview Stellung zur Veröffentlichung der „Welt am Sonntag“ genommen. Die Überschrift lautet: „Tatsachen entstellen, Fakten verdrehen – wem nützt das falsche Spiel?“. In diesem Gespräch macht Werner genau das, was er der „Welt am Sonntag“ vorwirft: Tatsachen entstellen und Fakten verdrehen. Exemplarisch sei das hier an drei Interviewaussagen dargestellt.

Werner, Kanzlerin Merkel: gern gesehener Gast auf den Integrationsgipfeln der Bundesregierung (Quelle Merkel-Foto: A. Schafirov / Werner Media Group)

Werner, Kanzlerin Merkel: gern gesehener Gast auf den Integrationsgipfeln der Bundesregierung (Quelle Merkel-Foto: A. Schafirov / Werner Media Group)

Werner: „Nichtsdestotrotz hat meine Assistentin dem Journalisten der ‚Welt am Sonntag’ mitgeteilt, dass ich bereit wäre, alle Fragen zu beantworten, unter einer Bedingung: Dass meine Antworten ohne Veränderungen veröffentlicht würden [...]. Eine solche Zusicherung wurde uns jedoch nicht gegeben.“

Unser Kommentar: Diese Darstellung ist falsch. Die „Welt am Sonntag“ hat sich bereits mehrere Wochen vor der Veröffentlichung um ein Interview mit Nicholas Werner bemüht. Seine Assistentin stellte anfangs ein persönliches Gespräch in Aussicht, doch selbst ein zwischenzeitlich avisiertes Telefoninterview wurde abgesagt. Herr Werner hat sein diesbezügliches Gegendarstellungsbegehren zurückgezogen. Er wird wissen warum.

Werner [zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen]: „Selbst diese Information ist verfälscht dargestellt. Tatsächlich führt die Berliner Staatsanwaltschaft eine Überprüfung [...] durch und keine ,Ermittlungen’, wie es in dem Artikel heißt.“

Kommentar: Auch diese Darstellung ist falsch. Werner ist Beschuldigter in dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin. Dies hat nicht nur die Anklagebehörde der „Welt am Sonntag“ bestätigt, sondern auch Werners Anwalt persönlich. Der Strafverteidiger teilte uns mit Schreiben vom 7. Mai mit: „Mein Mandant, Herr Nicholas Werner, bat mich, Ihre Anfrage bzgl. eines Ermittlungsverfahrens zu beantworten. Es trifft zu, dass die Staatsanwaltschaft Berlin gegen Herrn Werner wegen des Verdachts der Geldwäsche ermittelt.“ Gegen die Darstellung, dass die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt, hat Werner denn auch weder einen Unterlassungs- noch einen Gegendarstellungsanspruch geltend gemacht.

Werner: „In dem Artikel jedoch wird alles miteinander vermischt und unter einem für uns nachteiligen Blickwinkel dargestellt. Außerdem erstaunt mich die Eile, in der der Artikel verfasst wurde.“

Kommentar: Das Investigativ-Ressort hat mit den Recherchen zu Nicholas Werner im Dezember begonnen – mehrere Monate vor der Veröffentlichung also. Der Artikel ist also keineswegs in „Eile“ verfasst worden, was übrigens auch Werner ganz genau weiß. Denn spätestens am 1. Februar teilte ihm das Berliner Landes-Einwohnermeldeamt mit, dass die „Welt am Sonntag“ zu seiner Person eine erweiterte Melderegisterauskunft beantragt und erhalten habe. Am 8. April baten wir den Verleger dann um ein Gespräch und übermittelten ihm schließlich am 22. April einen Fragenkatalog, den er angeblich nicht in der gesetzten Frist beantworten konnte. Wir haben die Veröffentlichung von „Russisches Roulette“ deshalb extra um eine Woche verschoben.

IV. Weitere Fakten und Hintergründe

Für alle Leser, die mehr über den Verleger und Kaufmann Nicholas Werner erfahren wollen als in dem Beitrag der „Welt am Sonntag“ stand, präsentiert das Investigativ-Ressort nachfolgend einige weitergehende Rechercheergebnisse.

Verlagsgebäude der Werner Media: Undurchsichtige Konstruktion  (Foto: Uwe Müller)

Verlagsgebäude der Werner Media: Undurchsichtige Konstruktion
(Foto: Uwe Müller)

Werners Verlag, die Werner Media Group GmbH, befindet sich seit einigen Jahren in einer finanziell desaströsen Situation. Aktuell listet die Auskunftei Creditreform fünf Haftanordnungen zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung auf und rät ihren Kunden von einer Geschäftsverbindung ab. Eine russische Geschäftsfrau hat bei einem Berliner Amtsgericht wegen einer offenen Forderung in Höhe von 1,079 Millionen Euro Euro zuzüglich Zinsen und Kosten einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirkt. Die frühere Druckerei des Verlags hat ein Inkassounternehmen beauftragt, Außenstände in Höhe von rund einer halben Million Euro einzutreiben. Eine Krankenkasse und ein Dienstleister haben Titel, mit denen gepfändet werden kann. Das Eigenkapital der Gesellschaft ist laut Creditreform negativ. Dies hatten wir teilweise schon in unserem Beitrag im Mai dargestellt.

Neu ist: Schon im November 2010 hatte das Amtsgericht Charlottenburg vorübergehend die vorläufige Insolvenzverwaltung über das Vermögen der Werner Media Group GmbH angeordnet. Die Zwangsverwaltung (AZ: 36w IN 4891/10) wurde nach gut einer Woche wieder aufgehoben. Damals konnte der Verlag offenbar kurzfristig Geld mobilisieren. Die Werner Media Group GmbH erhielt aus einem Kreditvertrag mit der Liechtensteiner Centrum Bank AG einen Zufluss von 6,64 Millionen Euro. Das Arrangement sah beachtliche 15 Prozent Jahreszinsen vor. Die Firma konnte das Geld anschließend jedoch nicht innerhalb der vereinbarten Laufzeit bis zum 31. Oktober 2011 komplett zurückzahlen. Offen blieb ein Millionenbetrag, der Verlag war erneut in einer prekären Lage.

Vor diesem Hintergrund gründete Nicholas Werner im April 2012 die Werner Media Verlags GmbH. Die neue Gesellschaft hat mittlerweile offenbar damit begonnen, das Verlagsgeschäft der alten Werner Media Group GmbH zu übernehmen. Allerdings ist das nicht ohne weiteres erkennbar, weil der Verlag in der Öffentlichkeit vielfach noch unter der alten Firmierung auftritt. Ein geschichtlicher Abriss auf der Internetpräsenz des Unternehmens verschweigt diese wichtige Veränderung. Dort wird im Impressum die Handelsregister-Nr. HRB 80337 und damit die alte Werner Media Group GmbH als verantwortliche Gesellschaft genannt.

Alleinige Anteilseignerin der neuen Werner Media Verlags GmbH ist seit Dezember 2012 Werners langjährige Lebensgefährtin Natalja Huneke. Nicholas Werner selbst hat laut Handelsregister keine Funktion mehr in dieser Gesellschaft. Er hat – ebenfalls im Dezember 2012 – die über die Werner Media Group GmbH gehaltenen Anteile an der WM Broadcasting GmbH an Frau Huneke abgetreten. Wir haben sie dazu schriftlich befragt. In ihrer Antwort legte Frau Huneke Wert auf die Feststellung: „Ich wurde nicht als ,Strohfrau’ eingesetzt, sondern habe vom Anfang an im Unternehmen mitgearbeitet.“

Werner, Begleiterin Huneke: "Ich wurde nicht als Strohfrau eingesetzt" (Foto: Picture-Alliance/dpa)

Werner, Begleiterin Huneke: “Ich wurde nicht als Strohfrau eingesetzt” (Foto: Picture-Alliance/dpa)

Mit diesem Winkelzug, der Übertragung von Firmenvermögen der alten GmbH auf eine neue GmbH, hat sich der Verlag vorläufig etwas Luft verschafft. Creditreform bescheinigt der Werner Media Verlags GmbH, gewissermaßen dem Auffangbecken der Werner Media Group GmbH, „mittlere Bonität“ und empfiehlt ein Kreditlimit von 7.500 Euro. Handelsrechtlich könnte aus der Konstruktion folgen, dass die neue Werner Media Verlags GmbH für Verbindlichkeiten der alten Werner Media Group GmbH haftet.

Die alte Firma, jüngst in Wermon Media Group umbenannt, hat noch 2011 nach Darstellung von Creditreform mit rund 70 Mitarbeitern einen Umsatz von 4,2 (2008: 7,2) Millionen Euro erzielt. Inzwischen hat die Gesellschaft nach eigener Darstellung kein Personal mehr und übt auch keine Tätigkeit mehr aus. Allerdings hat sie sich bis zum 30. September 2032 das Erbbaurecht am Grundstück Großbeerenstraße 186-192 im Berliner Süden gesichert. Dort residiert der Verlag. Laut einer Urkunde aus dem Jahr 2004 betrug der Kaufpreis 1,2 Millionen Euro. Grundstückseigentümerin ist die Liegenschaftsfonds Berlin GmbH & Co.KG. Gläubiger von Werners Verlagsfirma erwägen inzwischen, das Erbbaurecht pfänden zu lassen.

Abgesehen davon stand Nicholas Werner in Verbindung mit mehr als einem Dutzend weiteren Gesellschaften, die zumindest ihren Sitz auf dem Gelände in der Großbeerenstraße 186-192 hatten oder haben – oder aber nach Werner benannt sind (siehe Übersicht: „Nicholas Werner – Das Firmengeflecht”). In keiner dieser Firmen ist Werner noch Gesellschafter, etliche sind längst liquidiert; nach einem regelmäßig wiederkehrenden Muster und unter Einschaltung von Vertrauten Werners. Bei einigen Firmen fand nach merkwürdigen Geschäftsvorgängen ein nicht weniger merkwürdiger Eigentümerwechsel statt. Dazu zählt die Werner Group GmbH & Co.KG.

Als diese im August 2006 ins Handelsregister eingetragen wurde, war Nicholas Werner Kommanditist. Nicht einmal ein Jahr später stellte die Firma, vertreten durch Nicholas Werner, dem Privatmann Nicholas Werner laut einem Kreditvertrag für zehn Jahre ein zinsloses Darlehen über sechs Millionen Euro zur Verfügung. Der Vertrag trägt also gleich zwei Mal die Unterschrift von Werner, der sowohl als Darlehensgeber als auch als Darlehensnehmer unterzeichnete. Das In-sich-Geschäft wirft viele Fragen auf. Etwa die, ob die Gesellschaft durch das zinslose Darlehen vorsätzlich geschädigt wurde oder ob es sich um eine verdeckte Gewinnausschüttung vorbei am Finanzamt handelte. Auch dazu hatten wir Werner Fragen gestellt, die unbeantwortet blieben. Der Darstellung in der „Welt am Sonntag“ hat er nicht widersprochen.

Die Werner Group GmbH & Co.KG, die „genehmigungsfreie Finanzdienstleistungen“ erbringt, hatte bereits im ersten Geschäftsjahr enorme Verbindlichkeiten aufgetürmt – Ende 2006 laut Bilanz ein Betrag von 9,5 Millionen Euro. Inzwischen haben uns mit Werners Geschäften vertraute Personen berichtet, über die GmbH & Co.KG seien damals angeblich über acht Darlehensverträge insgesamt 8,1 Millionen Euro an die Werner Media Group GmbH, die Werner Grundbesitz GmbH, die MW Trade GmbH Import-Export und die Refrq GmbH geflossen. Die Informanten nennen präzise Details zu den angeblichen Verträgen und behaupten, die Darlehen seien bis heute nicht getilgt worden. Dazu befragt, ließ Werner ausrichten: „Die von Ihnen erwähnten Gesellschaften haben weder mit Herrn Werner noch mit der Werner Media Verlags GmbH zu tun.“ Die der „Welt am Sonntag“ vorliegenden Informationen seien „nicht vollständig und bruchstückhaft“. Sämtlichen vertragliche Beziehungen zwischen den Gesellschaften und den Partner seien erfüllt worden, heißt es in der Stellungnahme.

Alles in Ordnung also? Die Frage ist, woher stammten die Mittel, mit denen die Werner Group GmbH & Co.KG ihre Geschäfte betrieben hat.

Werner-Publikationen: "Der größte russischsprachige Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Europas   außerhalb der ehemaligen GUS-Staaten"

Werner-Publikationen: “Der größte russischsprachige Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Europas
außerhalb der ehemaligen GUS-Staaten”

Die Gesellschaft war in ihrer Anfangszeit offenbar eine gigantische Geldverteilmaschine. Vor diesem Hintergrund sagen frühere Mitarbeiter, der Verlag diene in Wahrheit nur als Fassade, tatsächlich lebe Werner „vom Schwarzgeldzufluss aus kriminellen Quellen“. Die Informanten nennen dazu viele Details, Beweise gibt es aber nicht. Werner erklärt dazu: „Die angeblichen Behauptungen früherer Mitarbeiter sind falsch.“

Im Sommer 2009 schied Nicholas Werner als Kommanditist aus der Werner Group GmbH & Co.KG aus, neuer Kommanditist wurde ein Mann, der in Werners Firmenimperium immer wieder einspringen musste: sein Vertrauter Georgy Peredelskiy. Der gebürtige Russe ist der deutschen Sprache nicht mächtig und hat in Werners Firmen immer wieder in schneller Folge Funktionen als Geschäftsführer, Liquidator oder Gesellschafter übernommen. Unter der Berliner Adresse, die Peredelskiy heute im Handelsregister angibt, findet sich an der Haustür nicht einmal eine Klingel mit seinem Namen, zumindest bis vorvergangener Woche. Dafür ist dort der Name von Werners langjähriger Lebensgefährtin Huneke zu finden, die allerdings ihren Hauptwohnsitz anderswo hat.

Peredelskiy veröffentlichte im vergangenen Sommer den letzten Jahresabschluss für die Werner Group GmbH & Co.KG, bevor auch er die Firma weiterreichte. Danach hatte sie Ende 2011 Verbindlichkeiten in Höhe von 18,6 Millionen Euro – bei Forderungen von angeblich 9,9 Millionen Euro. Die Finanzanlagen wurden mit 75.000 Euro angegeben, der Kassenbestand mit 64 Euro. Bald nach Vorlage dieser Zahlen stand der nächste Vertraute Werners als Kommanditist parat: Und damit ist man bei der Transnistrien-Connection angelangt.

Ghenadi Gorelovschi, der neue Verantwortliche, lebt in Tiraspol, der Hauptstadt der völkerrechtlich nicht anerkannten Transistrischen Moldauischen Republik. Gorelovschi und Werner sind alte Freunde. Gorelovschi hat die Werner Group GmbH & Co.KG inzwischen in Gorelgen GmbH & Co.KG umbenannt. Er sagte auf unsere Anfrage hin, die Gesellschaft habe keinen einzigen Euro Schulden, „weder zum Zeitpunkt des Kaufs noch jetzt“. Diese Darstellung ist schwer nachvollziehbar.

Gorelovschi hat zwei Brüder, Andrei und Alexsandr. Ghenadi und Andrej sind an der Nictory GmbH beteiligt (Alexsandr Gorelovschi hat seinen Anteil jüngst an Werners langjährige Lebensgefährtin Natalja Huneke veräußert). Diese Gesellschaft – und Transnistrien – spielen eine Rolle bei dem eingangs erwähnten Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin: Die Anklagebehörde ermittelt gegen Nicholas Werner und seinen Gefolgsmann Georgy Peredelskiy wegen des Verdachts der Geldwäsche beziehungsweise der Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte (Paragraf 261 StGB).

Hintergrund der Ermittlungen sind Lieferungen von Computertomographen der Firma Siemens über eine Zwischenfirma im Zusammenhang mit der Nictory GmbH nach Transnistrien. Eine Geschäftsbank hat Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft Berlin bestätigte der „Welt am Sonntag“ die Ermittlungen, wollte aber keine Angaben zum Stand des Verfahrens machen. Nicholas Werner betont, er sein „kein Miteigentümer“ der Nictory GmbH. Dies mag zutreffen. Tatsächlich aber werden Mitarbeiter der Nictory GmbH ausweislich einer internen Organisationsunterlage, die der „Welt am Sonntag“ vorliegt, wie Mitarbeiter der Werner Media geführt. So lautet ihre E-Mail-Endung „@wernermedia.de“. So entsteht der Eindruck: Im Außenverhältnis sind am Sitz des Verlages zwar etliche verschiedene GmbH tätig, die im Innenverhältnis aber offenbar wie ein einheitlicher Konzern gesteuert werden.

Zu guter Letzt ist Nicholas Werner aktuell Beklagter in einem Zivilgerichtsverfahren, das vor dem Landgericht Berlin anhängig ist (Az.: 28 O 76/12). Ein russischer Geschäftsmann fordert von Werner insgesamt 1,2 Millionen Euro zurück, die er ihm 2004 und 2005 als Darlehen gewährt haben will. Werner bestreitet, das Geld als Darlehen erhalten zu haben und behauptet, die Unterschrift unter einem entsprechenden Vertrag stamme nicht von ihm. Das Landgericht hat dazu einen Beweisbeschluss erlassen und Werner jüngst aufgefordert, Unterschriften und Schriftproben aus den Jahren 2004-2009 vorzulegen, „jeweils zehn im Stehen und Sitzen angefertigte.“ Voraussichtlich wird bis Jahresende ein Urteil ergehen. Sollte Werner in dem Rechtsstreit unterliegen, wäre er als Privatperson in der Pflicht.

Auffällig ist, dass der Geschäftsmann Werner wiederholt seinen Pflichten als Darlehensnehmer nicht nachgekommen ist. Schon vor Jahren hatte das Landgericht Berlin ihm dabei besonders dreistes Vorgehen bescheinigt (Az.: 22 O 118/06). Ein spanischer Geschäftsmann hatte der Werner Media Group GmbH und der MW Trade GmbH Import-Export zwei kurzfristige Überbrückungsdarlehen über insgesamt 200.000 Euro gewährt und verlangte vergeblich, das Geld innerhalb der vereinbarten Frist zurückzubekommen. Die Firmen, vertreten durch die Geschäftsführer Nicholas Werner und die Moskauerin Joulia M., behaupteten vor Gericht, es habe sich überhaupt nicht um Darlehen gehandelt. Vielmehr hätten sie mit dem spanischen Geschäftsmann einen Werkvertrag geschlossen und ihn für das Geld in rechtlichen und sonstigen Fragen beraten. Der spanische Geschäftsmann erklärte dem Gericht, seine Unterschriften unter den angeblichen Verträgen seien gefälscht.

Die Richter setzten sich damals nicht mit der Frage auseinander, ob Werner als Kopf einer Fälscherwerkstatt agiert hatte – sie urteilten nur darüber, was von den angeblichen Werkverträgen zu halten sei: Die von den Werner-Firmen angeblich für den spanischen Geschäftsmann erbrachten Leistungen seien „völlig wertlos“, ein „Nullum“. Zweck des Geschäfts sei es gewesen, den spanischen Geschäftsmann „ohne Gegenleistung zu einer Zahlung zu bewegen“ – und das sei „absolut sittenwidrig“. Der harsche Richterspruch zeigt, was Werner unter dem versteht, was er selbst „russisches Business“ nennt.

Nachtrag 19. Juni 2013: Nicholas Werner ist beim Berliner Landgericht mit seinem Unterlassungsanliegen gescheitert. Das Gericht hat seinen Antrag komplett abgewiesen.

Nachtrag 20. Juni 2013: Im Rechtsstreit Nicholas Werner ./. Axel Springer u.a. ist heute vor dem Landgericht Berlin die Gegendarstellung verhandelt worden. Dabei hat die 27. Zivilkammer unter dem Vorsitzenden Michael Mauck entschieden, dass die “Welt am Sonntag” keine einzige Gegendarstellung von Werner drucken muss. Eine zuvor ergangene einstweilige Verfügung zum Abdruck einer Gegendarstellung mit drei Punkten wurde aufgehoben. Damit ist Nicholas Werner erstinstanzlich in allen gerichtlichen Auseinandersetzungen vollständig unterlegen.

 

 

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog


Как один издатель защищается против наших разоблачений

$
0
0

Как один издатель защищается против наших разоблачений

An dieser Stelle hatten wir darüber berichtet, mit welchen Falschbehauptungen der Berliner Verleger Nicholas Werner, der etliche russischsprachige Publikationen herausgibt, gegen unsere Enthüllung „Russisches Roulette“  vorgeht. Daraufhin erreichten die Redaktion zahlreiche Anrufe mit der Aufforderung: „Dieser Text muss unbedingt in russischer Sprache erscheinen, damit auch das russische Publikum von diesen Machenschaften erfährt!” Dieser Bitte kommen wir hiermit gern nach.

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Endspiel

$
0
0

Endspiel

Die Insolvenz ist eröffnet: Deutschlands wichtigster Verlag soll eine AG werden. Dtv und die Wella-Erben zeigen Interesse

Von Sven Clausen und Uwe Müller

Alles sah im Landgericht Frankfurt nach einem dieser ermüdenden Prozesstage im endlosen Streit zwischen den beiden Suhrkamp-Gesellschaftern aus, als der Anwalt von Ulla Unseld-Berkéwicz zu seinem Handy griff. Eine Nachricht aus Berlin, per SMS: Das Insolvenzverfahren gegen den Suhrkamp-Verlag ist eröffnet! Mit 61 Prozent ist Unseld-Berkéwicz dessen Mehrheitseignerin. Seit Jahren kämpft sie mit dem Minderheitsgesellschafter Hans Barlach um die Macht im Verlag. Es ist wie in Samuel Becketts absurdem Theaterstück “Endspiel”: Entkräftete Protagonisten, die sich in düsteren Räumen zermürben, ständig auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg.

Und jetzt also: Insolvenz. Für den deutschen Kulturbetrieb nicht weniger als eine Bombe.

Gezündet hat sie Mechthild Wenzel, Richterin am Berliner Amtsgericht Charlottenburg. In Berlin residiert der alte Frankfurter Verlag seit Anfang 2010. Richterin Wenzel ist in Insolvenzsachen zuständig für Firmen mit dem Anfangsbuchstaben S, deshalb ist Suhrkamp ihre Sache. Zu Beginn der Woche hatten ihr Fachjuristen – beauftragt teils von Suhrkamp, teils vom Gericht – in umfangreichen Dokumenten dargelegt, warum es mit dem Verlag so nicht weitergehen könne. Überschuldet sei das Haus, Geld könne es auch nicht mehr auszahlen.

Wenzel brütete über den Papieren. Noch am frühen Dienstagnachmittag beschied sie der “Welt”, sie könne keine Auskunft geben. Wenige Stunden später traf sie ihre Entscheidung, zu eindeutig war die Lage: Nach internen Unterlagen, die der “Welt” vorliegen, rechnet der Verlag allein für den August damit, fällige Schulden über drei Millionen Euro nicht zurückzahlen zu können – falls das Insolvenzverfahren nicht eröffnet wird. Dazu hat der Geschäftsführer Jonathan Landgrebe eine eidesstattliche Versicherung abgegeben: Die Banken würden in diesem Fall jene Kredite nicht mehr gewähren, die Suhrkamp sonst immer über die umsatzschwachen Sommermonate gerettet hätten. “Dieses Jahr sind aber – anders als in den vorangegangen Jahren – solche Fremdmittel / Bankdarlehen nicht zu erhalten”, schreibt Landgrebe. Bilanziell sei der Verlag ohne Insolvenzverfahren – je nach Rechnung – mit einem Betrag zwischen 4,3 Millionen und 7,8 Millionen Euro überschuldet.

Für Unseld-Berkéwicz, die nicht nur Haupteignerin, sondern auch Geschäftsführerin ist, sieht das paradoxerweise erst einmal wie ein Punktsieg aus. Denn mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens löst sich vermutlich ein Knoten: Barlach verliert seine Sonderrechte. In der alten Organisationsform des Verlags, der Kommanditgesellschaft, hatte er sie sich als Teilhaber ausbedungen. Kosten für Autorenrechte von mehr als 250.000Euro, Anmietungen mit Kosten über 75.000Euro: Barlach muss gefragt werden. Und einen eigenen Geschäftsführer für Finanzen und Controlling darf er auch stellen.

Der Insolvenzplan der Fachjuristen sieht eine Revolution vor: die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Barlach würde seine Anteile von 39 Prozent behalten – und damit auch seinen Anteil am etwaig auszuschüttenden Gewinn. Jegliche Sonderrechte hätte er in einer Aktiengesellschaft aber verloren. Die Richterin Wenzel muss dem Insolvenzplan nicht folgen, in der Regel geschieht aber genau dies.

Barlach nimmt die Aussicht auf den Wechsel in eine Aktiengesellschaft im Gespräch mit der “Welt” gelassen: “Wenn Suhrkamp mit der Umwandlung der Gesellschaftsform endlich ein vernünftiges Management erhält, kann ich mit der Rolle als Aktionär sehr gut leben. Ich strebe nach wie vor an, dass die Suhrkamp-Geschäftsführer abberufen werden. Man darf den Bock nicht zum Gärtner machen. Diejenigen, die für die kritische Lage des Verlages verantwortlich sind, dürfen nicht länger über seine Geschicke entscheiden.”

Der mächtigste Mann in dem literarischen Unternehmen wird demnächst der Sachwalter: Rolf Rattunde, bislang vorläufiger Sachwalter des Gerichts und damit einer der wichtigsten Ratgeber von Richterin Wenzel. Der hat den Auftrag, das Unternehmen weitestgehend zu erhalten, zu stabilisieren, aber eben auch die Gläubiger zu befriedigen, deren Schulden der Verlag derzeit nicht zurückzahlen kann. Gut möglich, dass er da auf Interessenten zurückgreift, die Suhrkamp bereits seit längerem umkreisen und Geld geben würden. Die Frage ist dann nur: zu welcher Gegenleistung? Nur Aktien (und wenn ja: wie viele) oder auch gleich ein Austausch der Geschäftsführung um Ulla Unseld-Berkéwicz?

Bislang umschwärmen vor allem zwei Parteien den Verlag: Auf der einen Seite Ulrich und Sylvia Ströher, Erben der Haarpflegedynastie Wella. Sie versuchen seit Monaten an Anteile zu kommen. Mit dem Insolvenzverwalter als Ansprechpartner könnte das einfacher werden als mit den verfeindeten Altgesellschaftern. Die Ströhers waren für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Von Suhrkamp hieß es: “Es ist richtig, dass die Familie Ströher Interesse an einem Engagement im Verlag hat.” Die Familienstiftung von Berkéwicz wolle ihre Mehrheit aber nicht aufgeben. Mit Barlach sei es nie zu “konstruktiven Gesprächen” gekommen, teilte Suhrkamp mit.

Es gibt aber noch einen zweiten Interessenten, der eine Mehrheit anstrebt und den bislang niemand auf seiner Rechnung hatte: Nach Informationen der “Welt” handelt es sich um den Deutschen Taschenbuchverlag – eine echte Überraschung. Suhrkamp bestätigte Kontakte zwischen dtv und Frank Kebekus, dem Suhrkamp-Generalbevollmächtigten: “Es hat vor einigen Wochen hierzu ein Gespräch mit Dr. Kebekus stattgefunden. Weiterführende Gespräche wurden bisher nicht geführt. Die Geschäftsführung bzw. Herr Kebekus nehmen solche Vorschläge selbstverständlich zur Kenntnis und beziehen sie in ihre Überlegungen ein.” Die Gespräche waren offenbar so geheim, dass nur die Gesellschafter des dtv, nicht aber deren Geschäftsführer Kenntnis davon haben.

Dtv könnte durchaus zu Suhrkamp passen. Der Verlag hat in den letzten Jahren einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht. Er setzt mit gut 100 Mitarbeitern rund 60 Millionen Euro um. Gegründet von elf Verlagen 1960 als reiner Taschenbuchverlag und damit von seinen Gesellschaftern vorwiegend als Zweitverwertungsmaschine genutzt, ist er mittlerweile nur noch in der Hand von vier Eignern: Beck, der Hamburger Ganske-Gruppe, Hanser und Oetinger. Dafür hat er aber sein Portfolio um eine Vielzahl von Abteilungen erweitert, vorwiegend im Sachbuchbereich. Seit der Einführung der Reihe “dtv premium” verlegt er auch belletristische Originalausgaben, wobei der Schwerpunkt auf Debütanten des In- und Auslandes liegt. Trotzdem ist dtv vor allem für jüngere Autoren nicht gerade eine verlegerische Wunschheimat.

Allerdings ist die Taschenbuch-Kultur seit langem auch ein Akzent bei Suhrkamp. Mit seinen Reihen “Suhrkamp Wissenschaft” oder “Edition Suhrkamp” weist der Verlag eine gewisse Ähnlichkeit mit dem äußeren Erscheinungsbild von dtv auf. Doch die dtv-Avancen stoßen bei Unseld-Berkéwicz offenbar auf wenig Gegenliebe.

Hans Barlach zumindest hofft, dass Suhrkamp sich wieder sortiert. “Eine Insolvenz beschädigt immer ein Unternehmen. Es wird eine Zeit dauern, bis alles aufgearbeitet ist”, sagte er der “Welt”. Ob auch die Marke Suhrkamp Schaden genommen hat? “Diese Marke wird auch durch Inhalte und Autoren repräsentiert. Da hoffe ich, dass sich die Auswirkungen in Grenzen halten. Aber man kann schon sagen: In den vergangenen Wochen ist durch den Insolvenzantrag ein erheblicher materieller Schaden eingetreten, es wurden große Werte vernichtet.”

Am heutigen Donnerstag gibt es übrigens wieder einen dieser ermüdenden Prozesstage, dieses Mal vor einem Berliner Landgericht. Barlach will eine einstweilige Verfügung durchsetzen, damit Unseld-Berkéwicz nicht weiter Geschäftsführerin der Suhrkamp Verlagsleitung GmbH sein darf. Die Protagonisten des Endspiels zermürben sich weiter.

Mitarbeit: Tilman Krause, Stefan Röttele

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Lies keine Oden, lies die Gutachten!

$
0
0

Lies keine Oden, lies die Gutachten!

Wie geht es der Suhrkamp-Kultur wirklich? Eine kleine Lektüre der internen Insolvenzpapiere

Von Sven Clausen und Uwe Müller

Der Suhrkamp Verlag, so schwärmen sie zurzeit in der Literaturszene, steckt doch so voller Schätze: die Autorenrechte! der Bücherbestand! Rolf Rattunde sieht das nicht so: “Im Ergebnis”, schreibt der vom Gericht für den insolventen Verlag bestellte Sachwalter in seinem internen Gutachten, “ist ein wesentlicher Teil des Lagerbestandes auf dem Markt nicht sonderlich gefragt und deswegen auch nur sehr schwer oder nur zu sehr günstigen Preisen verkäuflich.” 5,5 Millionen Exemplare verschiedener Autoren und Titel hat er in den Lägern gezählt, 9000 Titel insgesamt. Man merkt, dass diesen sonst so sachlichen Juristen diese Situation doch etwas konsterniert. “Im vergangenen Geschäftsjahr”, schreibt er weiter, “wurden z.B. ca. 6000 Titel – entspricht zwei Drittel der Titel und rd. 2,4 Mio. Exemplaren Lagerbestand – weltweit weniger als 100mal verkauft.”

Eine Pleite kann auch eine Verheißung sein. Im Fall Suhrkamp lautet sie: Nach Jahren des voluminösen Verbalkriegs zwischen den Gesellschaftern Hans Barlach und Ulla Unseld-Berkiéwicz sezieren kühl analysierende Juristen den Verlag. Wie gut ist er denn jetzt wirklich, zumindest ökonomisch? Und sind die Chefs gute Geschäftsführer? Der “Welt am Sonntag” liegt das Gutachten vor, mit dem Rattunde den Insolvenzantrag der Suhrkamp-Geschäftsführung beim Amtsgericht Charlottenburg unterstützt hat, und auch der Insolvenzplan, den Juristen für den Verlag ausgearbeitet haben und der dem Haus wieder eine Zukunft geben soll. Es sind, mit allen Anlagen, knapp 240 Seiten – das Panoptikum eines ruhmreichen Kulturbetriebs, aber auch ein Dokument der Ernüchterung.

Den 5,5 Millionen Büchern im Lager widmet Rattunde fast vier seiner eng beschriebenen DIN-A4-Seiten. Am Ende einer voltenreichen Diskussion kommt er zum Schluss, dass sie insgesamt für den Verlag nur 3,969 Millionen Euro wert sind – pro Buch also gerade 72 Cent. Nicht einmal Flohmarktpreise.

Auch sonst scheint Suhrkamp eine Neigung zum modernen Antiquariat zu haben. Neben elf Leasingfahrzeugen zählt der Verlag neun eigene Autos – darunter zwei zeitgenössische Klassiker: Einen VW Polo 60, Baujahr 1996, mit mehr als 245.000 Kilometern auf dem Tacho und den Jaguar Souverän 4.0 des verstorbenen Verlags-Übervaters Siegfried Unseld, ebenfalls Baujahr 1996 mit einem Kilometerstand von 285.840. Liquidationswert der Flotte: 24.200 Euro.

Das würde gerade mal die Hälfte der Kosten für die Büro- und Lagerflächen des Verlags in der Berliner Pappelallee decken: 46.000 Euro für die gut 4000 Quadratmeter fallen da monatlich an. Dazu kommen 3600 Euro monatlich für die Repräsentationsadresse in der Gerkrathstraße in Berlin, in der Berkiéwicz privat wohnt. 292 Quadratmeter ihrer Villa hat sie an Suhrkamp vermietet, etwa für Lesungen. Eine “Autorenwohnung” sowie eine “Gästewohnung” für je rund 500 Euro Miete unterhält der Verlag auch noch.

Rattunde bleibt zwar in seinem Gutachten diszipliniert, mitunter schimmert aber durch, für wie handlungsunfähig er die Geschäftsführung um die Verlagserbin Unseld-Berkiéwicz hält – etwa wenn er notiert, dass ihm für die kommenden zwei Jahre “ein Unternehmenskonzept nicht vorliegt”. Trotzdem unterstützt das Gutachten die Marschroute der Mehrheitseignerin, nämlich die Sanierung des Verlags aus der Insolvenz mit der alten Geschäftsführung. Immerhin: Rattunde hat für sich selbst als Sachwalter ein Honorar von 500.000 Euro veranschlagt, wenn der Prozess dergestalt weiterläuft.

Die Neigung zur alten Geschäftsführung wird bei einigen Schätzungen deutlich, die Rattunde vornimmt. Vereinfacht: Je niedriger das Gutachten den Wert des Verlags ansetzt, umso besser für die Argumentation einer Überschuldung und eines Neuanfangs. Zudem verknüpft Rattunde viele der Werte des Verlags indirekt mit dem weiteren Wirken von Unseld-Berkiéwicz. Frappierend ist das etwa bei den Autorenrechten. Hermann Hesse, Thomas Bernhard, Bertolt Brecht, Christa Wolf – die Liste ist Legende. Etwa 30.000 Verlagsverträge hat Rattunde gezählt. Den Wert, den er dafür im Falle eines Verkaufs veranschlagt: null.

Seine Argumentation: Bei einem Eigentümerwechsel dürften alle Autoren wieder die Eigennutzung verlangen. Würde man bei einzelnen Autoren auch nur anfragen, prophezeit Rattunde, “wäre das Medienecho und die Resonanz unter den Autoren derart, dass mit einem Zusammenbruch des Suhrkamp Verlag ernsthaft gerechnet werden müsste”. Vergleichbar verläuft die Argumentation bei der Marke Suhrkamp, die Rattunde mit lediglich 250.000 Euro ansetzt. “Der Wert der Marke hängt maßgeblich von den Autoren ab, die sich an den Verlag vertraglich gebunden fühlen”, schreibt der habilitierte Jurist in seinem Gutachten.

Eine perfekte Vorlage ist das für den Insolvenzplan von Unseld-Berkiéwicz und ihren Juristen, den sie dem Gericht vorlegt und der für sie Überzeugungsarbeit leisten soll, den Verlag weiterführen zu dürfen. Obwohl Suhrkamp 2012 rote Zahlen geschrieben hat, verliert sie kaum ein Wort darüber, wie sie beispielsweise im Vertrieb oder bei den Kosten besser werden will. Stattdessen heißt es in dem Abschnitt “Fortsetzung der Geschäftstätigkeit”: “Im deutschen Buchhandel wurde der 1. Juli 2013 zum ‘Wir lieben Suhrkamp’-Tag erklärt, an dem mehr als 250 unabhängige Buchhandlungen teilnahmen und ihre Auslagen entsprechend dekorierten. Auch von Seiten der Presse und der Autorenschaft wurde die Schuldnerin durch neue Vertragsabschlüsse und öffentliche Stellungnahmen unterstützt.”

Dass die Geschäftsführung möglichst genau so weiterarbeiten möchte wie bisher, lässt sich auch aus einem wichtigen Detail ablesen, das im Insolvenzplan fehlt. Nach Informationen der “Welt am Sonntag” haben bislang mindestens zwei Externe bei der Geschäftsführung ihr Interesse hinterlegt, den Verlag mit frischem Kapital zu unterstützen – selbstverständlich im Tausch gegen Anteile und Einfluss. Einer davon ist der Deutsche Taschenbuch Verlag, der naturgemäß fachliche Expertise einspeisen wollen würde. Im Insolvenzplan ist aber nur vom Interesse der SFO GmbH die Rede, einer Firma der Wella-Erben Sylvia und Ulrich Ströher – ein eher fachfremder Kandidat.

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Als ein Bodybuilder Merkels Kanzlerflieger kaperte

$
0
0

Als ein Bodybuilder Merkels Kanzlerflieger kaperte

Ende Juli klettert ein Deutschtürke in Merkels eigentlich streng gesicherten Regierungsjet. Das Protokoll des Polizeieinsatzes offenbart schwere Sicherheitslücken und das Versagen der Luftwaffe.

Von Martin Lutz und Uwe Müller

Es ist der Abend des 25. Juli, und in Bayreuth beginnen die Festspiele. Auf dem Grünen Hügel trifft sich die Politprominenz zu einem Stelldichein, Bundeskanzlerin Angela Merkel erscheint in blauem Kleid mit Blazer. Auf dem Spielplan steht Richard Wagners Oper “Der fliegende Holländer”.

Während der Aufführung spielt sich rund 450 Kilometer entfernt eine unglaubliche Szene ab. Einem Unbekannten gelingt es, in Merkels Regierungsmaschine einzudringen, obwohl die auf einem militärisch streng bewachten Teil des Flughafens Köln/Bonn abgestellt ist. Bei der Luftwaffe herrscht helle Aufregung, Alarmstufe 1. Wie konnte das passieren?

Es ist eine Frage, die sich auch Thomas de Maizière stellen muss. Der gekaperte Kanzlerjet gehört zur Flugbereitschaft seines Verteidigungsministeriums. Da gibt es einiges zu erklären. Der Ressortchef hat momentan keinen guten Lauf. Erst das Debakel um die Drohne, jetzt das Versagen auf dem Airport. Beim Euro Hawk wurde dem Christdemokraten vorgeworfen, viel zu spät die Notbremse gezogen und Millionen verschwendet zu haben.

Der aktuelle Fall ist kaum minder brisant. Im Mittelpunkt steht dabei freilich weniger das Geld der Steuerzahler als vielmehr die Sicherheit der höchsten Repräsentanten des Staates. Mit der Maschine fliegt nicht nur Merkel, auch ihre Minister und der Bundespräsident dürfen mit ihr um die Welt reisen.

Ministerium spielt den Vorfall herunter

De Maizière zählte noch im Frühjahr zu den Schwergewichten im Kabinett und galt als geborener Nachfolger der Kanzlerin. Doch die Drohnen-Affäre hat dem Nachkommen einer hugenottischen Familie schwer zugesetzt. Auf der Beliebtheitsskala von Politikern, die er schon einmal angeführt hatte, ist de Maizière regelrecht abgestürzt. Mit seiner Arbeit ist Umfragen zufolge nur jeder dritte Bundesbürger zufrieden.

Der Ärger um den Kanzlerjet kommt da höchst ungelegen. Allerdings ist es dem Verteidigungsministerium bisher gelungen, den Vorfall herunterzuspielen. In einer Mitteilung wird das nächtliche Geschehen so zusammengefasst: “Die Person wurde zunächst vom Wachpersonal gestellt und anschließend durch die verständigte Polizei festgenommen.” Diese Darstellung ist zwar nicht falsch, aber keineswegs angemessen. Als Merkel in Bayreuth nach dem “Fliegenden Holländer” auf einem Staatsakt mit fast 1000 Gästen eine riesige Torte anschneidet, ist das Drama auf dem militärischen Sperrgebiet noch lange nicht beendet.

Der “Welt am Sonntag” liegt dazu jetzt ein brisantes Papier vor. Die Bundespolizei hat den Einsatz in Köln/Bonn auf acht Seiten minutiös dokumentiert und jede einzelne Information mit Zeitangaben versehen. Die Chronologie liest sich wie ein Protokoll des Versagens der Bundeswehr. Diese Zeitung veröffentlicht und erläutert nachfolgend zentrale Passagen des Vermerks. Die Zitate aus dem Papier sind kursiv gesetzt, einige Angaben wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Protokoll des Versagens

25. Juli, 21:27 Uhr: Objektinformation vorhanden.

Das “Objekt”, zu dem eine Information vorliegt, ist etwa 700 Meter breit und 1800 Meter lang – der militärische Teil des Flughafens. Er liegt zwischen der Luftwaffenkaserne Wahn und dem zivilen Airport und dient der Flugbereitschaft als Hauptstandort. Diese beschäftigt rund 1100 Mitarbeiter und verfügt über gut ein Dutzend Maschinen. Sie werden vor allem “für Sonderflüge zur Beförderung von Personen des politischen und parlamentarischen Bereichs genutzt”, wie es in der entsprechenden Richtlinie heißt. Das Areal im Kölner Südosten gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Überall warnen Schilder: “Unbefugtes Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!”

21.28 Uhr: Anruf militärischer Teil. Eine fremde Person auf dem Luftfahrzeug der Bundeswehr.

Jetzt ist klar, was hinter der Information steckt: Ein Unbekannter ist auf eine Maschine der Flugbereitschaft geklettert. Was führt diese Person im Schilde? Ist sie bewaffnet, hat sie Sprengstoff dabei? Womöglich ein islamistischer Terrorist? Jedenfalls ist Gefahr im Verzug.

21.34 Uhr: Mitteilung der Firma Nordwacht [privater Sicherungsdienst der Bundeswehr]. Auf der Stellfläche 37ZULU Platte befindet sich in einem A 319 der Bundeswehr eine männliche Person, die unter Drogen stehen soll. Die Maschine wird von der Bundeswehr gesichert. Auf die Aufforderung, die Maschine zu verlassen, reagiert die Person nicht. Streife auf dem Weg zum Einsatzort.

Die Situation ist heikler als gedacht. Der Eindringling macht sich ausgerechnet an dem Airbus A319 mit der Kennung 1502 zu schaffen. Das erst vor drei Jahren angeschaffte Flugzeug, Listenpreis 58 Millionen Euro, verfügt über einige Extras: Die gesamte Kommunikationstechnik ist abhörsicher. Es gibt ein “rotes Telefon”, das allerdings aus ästhetischen Gründen in schwarzer Farbe gehalten ist. Das creme- und beigefarbene Interieur in der Kabine vermittelt eine gediegene Atmosphäre. Im Bug der Maschine befindet sich ein Privatbüro mit zwei VIP-Sitzen und einer Couch. Dahinter schließt sich der Konferenzbereich mit zwölf Sitzplätzen an. Das nächste Abteil bietet bis zu 32 Passagieren Platz, etwa für Delegationen. Dank Zusatztanks reicht der Sprit für Nonstop-Flüge nach Washington oder Peking.

Bundeswehr macht erst nach halber Stunde Ernst

21.42 Uhr: Die Person hat gegen 20.40 Uhr ein Notsignal im Cockpit ausgelöst. Seit diesem Zeitpunkt weiß die Bundeswehr von der Person.

Dem bislang nicht identifizierten Mann ist es gelungen, erst in die Maschine und dann ins Cockpit einzudringen. Dort drückt er den Knopf des Emergency Locator Transmitter, eines Alarmsystems, das im Falle eines Absturzes oder Unfalls aktiviert wird. Das Signal empfangen der Tower in Köln/Bonn, andere Flugzeuge und eine Bundeswehrleitstelle in Münster. Diese drängt daraufhin, den Vorfall sofort zu klären.

21.45 Uhr: Auf dem Vorfeld wurde eine Tasche mit vermutlichen diversen Drogen gefunden.

Bei den Drogen handelt es sich um Ecstasy-Pillen und Marihuana. Der Fund verstärkt den Verdacht, dass der Mann im Cockpit unter Drogen steht. Ist er deshalb besonders gefährlich?

21.54 Uhr: Lagesofortmeldung 08/2013 abgesetzt. Einsatzalarmstufe wurde geändert von 3 auf 1. [...] Einsatzart wurde geändert von PRÄVENTION zu SONDERLAGE. Die Maschine hat vermutlich fünf bis acht Tonnen Sprit an Bord. Die Bundeswehr kann nicht ausschließen, dass die Maschine gestartet werden kann.

Erst jetzt, beinahe eine halbe Stunde nach der ersten Information, nehmen die Sicherheitskräfte den Vorfall wirklich ernst. Stufe 1 ist die höchste Alarmstufe, die “Sonderlage” wird beispielsweise bei Geiselnahmen ausgerufen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn der Unbekannte die Maschine gleich nach der Kaperung gestartet hätte. Im Fall einer Kollision hätte der Jet leicht explodieren können. Egal ob dies auf dem Boden oder in der Luft passiert wäre: Die Folgen hätten verheerend sein können. Der Rücktritt von Verteidigungsminister de Maizière wäre wohl unvermeidlich gewesen.

Regierungsmaschine war nicht einmal abgeschlossen

22.01 Uhr: Des Weiteren teilte die Bundeswehr mit, dass die Maschinen am Boden nicht abgeschlossen werden und dass die Cockpittüren offen sind.

Zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs verpflichtet das Luftsicherheitsgesetz alle Airline-Betreiber, auf Verkehrsflughäfen abgestellte Flugzeuge “so zu sichern, dass weder unberechtigte Personen Zutritt haben noch verdächtige Gegenstände in das Luftfahrtzeug gebracht werden können”.

Für den militärischen Teil des Flughafens Köln/Bonn gelten zusätzlich spezielle Vorschriften. Markus Wahl, Vorstand der Pilotenvereinigung Cockpit, sagt der “Welt am Sonntag”: “Flugzeuge müssen grundsätzlich überall gesichert werden.” Der Kommandeur der Flugbereitschaft, Oberst Helmut Frietzsche, lässt ausrichten, genau dies sei der Fall gewesen: “Der A319 war verschlossen.” Aber auch die Luftwaffe muss einräumen, dass die Maschine über den Notausstieg zugänglich war. Zudem war die Tür zum Cockpit unerklärlicherweise offen. Und noch etwas kommt hinzu: Die Sensoren im Boden des Flugplatzes, die bei Vibrationen Alarm auslösen, waren wegen laufender Bauarbeiten abgeschaltet.

22.04 Uhr: In der Tasche auf dem Vorfeld wurde ein Zettel mit folgenden Personalien gefunden: T[.....], Volkan [.....]. 1986

Fast 20 Minuten sind nach der Entdeckung der Tasche verstrichen, bevor jener Zettel entdeckt wird, der Hinweise auf die Identität des nächtlichen Eindringlings gibt. Volkan T., 26 Jahre alt, ist ein Deutscher mit türkischen Wurzeln. Er wohnt auf der rechtsrheinischen Seite von Köln, im Stadtteil Porz, wenige Kilometer vom Tatort entfernt. Sofort wird eine “Personen- und Sachdatensuche” gestartet, die allerdings ebenso wie zwei spätere Anfragen keine aufschlussreichen Erkenntnisse liefert. Volkan T. ist in den Polizeicomputern nicht als Straftäter erfasst.

Endlich: die Militärpolizei

22.16 Uhr: Eintreffen Feldjäger mit Einsatzleitung vor Ort.

Nun endlich lässt sich die Militärpolizei blicken. Warum dauert das so lange? Schließlich liegt direkt neben dem Rollfeld, auf dem sich gerade ein Skandal abspielt, eine der größten Kasernen des Landes – die Luftwaffenkaserne Wahn. Hier sind Teile des Verteidigungsministeriums, drei höhere und einfache Kommandobehörden sowie zahlreiche militärische und zivile Dienststellen untergebracht.

22.19 Uhr: Maschine wird ausgeleuchtet. Löschfahrzeug vor Ort. Batterie des Luftfahrzeugs wurde abgeklemmt. Maschine kann nicht mehr starten.

Eine große Gefahr ist gebannt: Volkan T. kann dank der erst jetzt unterbrochenen Stromversorgung die beiden Triebwerke nicht mehr in Gang setzen. Die Luftwaffe behauptet im Nachhinein, die geparkte Maschine sei “ordnungsgemäß stromlos geschaltet” gewesen. Das steht klar im Widerspruch zu den Einträgen im Polizeiprotokoll.

22.20 Uhr: Stärke Bundespolizei 3/4. Dienstgruppenleiter Nachtdienst vor Ort.

“3/4″ bedeutet im Jargon der Bundespolizei: drei Beamte des gehobenen Dienstes und vier Beamte des mittleren Dienstes.

22.28 Uhr: Landespolizei vor Ort.

Die Polizei des Bundes und des zuständigen Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Militärpolizei bündeln nun ihre Kräfte. Der Einsatz gegen Volkan T. läuft bereits seit zwei Stunden. Außer einer Ansprache durch das Wachpersonal hat es allerdings keinen Versuch gegeben, sein Treiben zu beenden.

Polizei: Kontaktaufnahme über Megafon

22.33 Uhr: Die Person soll an einer Veranstaltung auf dem Gelände der Bundeswehr teilgenommen haben und durch die Bundeswehr einen Besucherausweis bekommen haben.

Dies stellt sich im Nachhinein etwas anders dar. Volkan T. soll am Tor der Luftwaffenkaserne vorgegeben haben, er wolle zum Unteroffiziersheim, weil er dort eine Hochzeitsfeier plane. Das Gebäude ist ein beliebter Veranstaltungsort, in der närrischen Zeit findet hier die Karnevalsgala “3 mal Porz Alaaf!” statt. T. darf in die Kaserne gehen. Anschließend verlässt er diese offenbar wieder und klettert vermutlich an anderer Stelle über den Sicherheitszaun auf den Flugplatz. Am Zaun werden später DNA-Spuren entdeckt. Videoaufnahmen fehlen, weil der Zaun nur lückenhaft mit Kameras überwacht wird.

23:23 Uhr: Luftfahrzeug-Treppe wird an die Maschine angebracht, es wird versucht, da sich die Person nicht mehr im Cockpit befindet, über Megafon Kontakt aufzunehmen.

Die Polizei hat keinen Funkkontakt zu dem Mann. Deshalb setzt sie ein Mittel ein, das im digitalen Zeitalter etwas antiquiert wirkt: ein Megafon.

23:52 Uhr: Die Kontaktaufnahme über Megafon verlief bislang erfolglos, die Person befindet sich noch immer nicht im Cockpit, sondern im hinteren Teil des Luftfahrzeugs.

Wieder ist eine halbe Stunde vergangen. Erklärt sich das Zuwarten mit Polizeitaktik? Oder ist es Ratlosigkeit? Zur Erinnerung: Die Eliteeinheit GSG9 brauchte 1977 im somalischen Mogadischu exakt sieben Minuten, um die entführte Lufthansa-Maschine “Landshut” zu stürmen und die Geiseln zu befreien.

Nach drei Stunden steht ein Plan

00:16 Uhr: Gegen 0.00 Uhr sind Hundeführer der Landespolizei eingetroffen. Es ist geplant, die Person mit Hilfe der Diensthunde aus dem Flugzeug zu holen. Derzeit findet eine Einsatzbesprechung vor Ort statt. [...] Hundeführer sind eingewiesen, es ist geplant, über die Treppe an der hinteren Tür den Diensthundeführer zuerst in das Luftfahrzeug zu schicken, drei Polizeivollzugsbeamte folgen dem Diensthundeführer.

Endlich! Ein Plan.

00:23 Uhr: Die Person wurde erfolgreich festgenommen. Person ist gefesselt und wird aus dem Luftfahrzeug geführt. Sie wurde durch den Diensthund gebissen. Person ist am Unterschenkel leicht verletzt. Sanitäter sind vor Ort.

Am Ende ist doch alles ganz schnell gegangen. Die Militärs und Polizeibeamten können aufatmen. Merkels Regierungsjet ist weder entführt noch in die Luft gesprengt worden. Abgesehen von zwei Hundebissen, die Volkan T. erlitten hat, ist kein Mensch zu Schaden gekommen. Dass die Sache so glimpflich ablaufen würde, war drei Stunden zuvor keineswegs abzusehen. Glück gehabt.

Eindringling hatte offenbar Liebeskummer

In ihrem Faltblatt “Willkommen an Bord” wirbt die Flugbereitschaft mit dem Slogan: “Ihre Sicherheit ist für uns oberstes Gebot!” Um die Sicherheit war es am 25. Juli nicht zum Besten bestellt, Volkan T. hat die Luftwaffe zum Narren gehalten. Hätte er ein Attentat geplant, so wie der islamistische Terrorist Mohammed Atta, der eine entführte Passagiermaschine ins World Trade Center steuerte, wäre die Geschichte möglicherweise in einer Katastrophe geendet.

Der Deutschtürke T., ein als verwirrt geltender Bodybuilder, der bei seiner Festnahme bloß eine Unterhose trug, hatte offenbar persönliche Motive. Er soll Liebeskummer gehabt und kurz vor seiner Aktion gesagt haben, er wisse, was er zu tun habe. Jetzt sitzt er in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln.

Der Schaden am Kanzlerjet ist überschaubar. Die linke Tragfläche musste neu lackiert und eine Notrutsche ausgetauscht werden. Nach einem Testflug ist der Airbus seit dieser Woche wieder startklar. Minister Thomas de Maizière möchte die Affäre damit am liebsten abhaken. Fragen dazu will er selbst nicht beantworten. Er lässt lediglich mitteilen, die Leitung des Hauses sei “zeitnah über den Vorfall in Kenntnis gesetzt” worden.

Damit gibt sich die SPD jedoch nicht zufrieden. Ihr Verteidigungsexperte Rainer Arnold sagte der “Welt am Sonntag”: “Dieser Vorfall muss restlos aufgeklärt werden.” Für ihn liegt es nahe, dass die Bundeswehr an der Sicherheit spart und statt eigenem Personal wenig qualifizierte Mitarbeiter von Wachschutzfirmen einsetzt. Er hat de Maizière schon als Obmann seiner Partei im Drohnen-Untersuchungsausschuss in Bedrängnis gebracht. Auch dieses Mal lässt Arnold nicht locker: “Herr de Maizière muss genau darlegen, wie es zu den eklatanten Sicherheitsmängeln bei seiner Flugbereitschaft kommen konnte.”

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Was passiert, wenn Ulla Berkéwiczs Plan aufgeht?

$
0
0

Was passiert, wenn Ulla Berkéwiczs Plan aufgeht?

Details aus dem Insolvenzplan: Wenn Suhrkamp in eine AG umgewandelt wird, hat Ulla Berkéwicz gewonnen. Eine Schlüsselrolle könnte der Verein spielen, der sich um die Rentner des Verlags kümmert.

Von Sven Clausen und Uwe Müller

Ulla Unseld-Berkéwicz schweigt. Sie gibt keine Interviews und meidet öffentliche Auftritte. Seitdem das Berliner Amtsgericht Charlottenburg die Insolvenz über den Suhrkamp-Verlag eröffnet hat, ist die Witwe Verlegers Siegfried Unseld wie abgetaucht. Dabei ist die Schriftstellerin nicht nur Mehrheitseignerin, sondern auch Geschäftsführerin des berühmtesten deutschen Literaturverlages.

Für Berkéwicz ist Zurückhaltung in dieser Phase eine kluge Strategie. Sie muss sich ausweislich des Insolvenzplans, den sie am 5. August beim Amtsgericht eingereicht hat und der nun der “Welt” vorliegt, kurz vor dem Ziel wähnen. Im Plan sind die letzten Akte für die Neutralisierung des verhassten Minderheitseigners Hans Barlach skizziert. Wie stehen die Chancen, dass der Enkel des Bildhauers Ernst Barlach das Blatt noch juristisch zu seinen Gunsten wenden kann?

Als Erstes muss Berkéwicz den Insolvenzplan durch den Gläubigerausschuss bringen, dem wichtigsten Entscheidungsgremium bei einem Unternehmen, das zahlungsunfähig ist, aber mit der alten Geschäftsführung weitermachen will. Er sieht, im Wesentlichen, die Streichung der Gesellschafterforderungen über gut sieben Millionen Euro und die Wandlung in eine Aktiengesellschaft vor. Das Treffen dazu wird in den nächsten Wochen stattfinden, aber schon die vorherigen Zusammenkünfte waren für die Verlegerin gut verlaufen, wie aus der Korrespondenz hervorgeht.

Die Besetzung des Gremiums ist alles andere als feindselig: Der Lyriker Durs Grünbein sitzt darin, von dem Suhrkamp aktuell fast fünfzig Werke im Angebot hat, ebenso die stellvertretende Betriebsratschefin Bettina Dümig, die Bundesagentur für Arbeit, der Netzwerk-Lieferant Hanse-Concept sowie der Pensions-Sicherungs-Verein. Einzig der Pensions-Sicherungs-Verein  muss für sie ein Unsicherheitsfaktor sein. Er springt für Firmenrentner ein, falls deren Verlag die Verpflichtung nicht mehr schultern kann. Im Fall Suhrkamp wären das: sieben Millionen Euro. Finanziert wird er durch eine Umlage aller deutschen Unternehmen, die eine Betriebsrente zahlen. Deswegen ist dem Verein jede Gefühligkeit ziemlich fremd.

Hans Barlach verlöre seine Sonderrechte

Aus dem Insolvenzplan lässt sich recht genau herauslesen, was geschieht, wenn er durchgewunken werden sollte. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft verliert Hans Barlach vermutlich seine Sonderrechte, mit denen er etwa bei einigen Personalien ein Vetorecht hatte oder auch bei größeren Investitionen mitreden durfte. Sie gelten nur für Suhrkamp als Kommanditgesellschaft. Doch das reicht Berkéwicz nicht.

Im Insolvenzplan ist vorgesehen, Barlach danach ein Abfindungsangebot für seine Aktien zu unterbreiten. Er wird dann 19.500 Stück halten, fünfzig Euro pro Aktie werden ihm angeboten. Insgesamt käme er damit auf einen Verkaufspreis von 975.000 Euro. Bislang hat Barlach immer beteuert, nicht verkaufen zu wollen. Dieser Preis wird ihn in seiner Haltung eher bestärken. Schließlich hat der Kaufmann bislang mindestens zwölf Millionen Euro in sein Suhrkamp-Engagement investiert. Das Abfindungsangebot dürfte er daher als Versuch auffassen, ihn kalt zu enteignen.

Barlachs Problem ist nur: Nimmt er das Angebot nicht an, wird er voraussichtlich seiner weiteren Entmachtung zusehen müssen. In diesem Fall könnte Barlach außerdem nicht mehr frei über seine Aktien verfügen. Einem Verkauf seines Pakets müsste laut Insolvenzplan der künftige Suhrkamp-Vorstand zustimmen. Barlach sieht in dem Vorgehen eine Verletzung der grundgesetzlich geschützten Eigentumsgarantie und erwägt deshalb, nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

Berkéwicz und ihre beiden Mitgeschäftsführer beschreiben im Insolvenzplan, welche weiteren Schritte wahrscheinlich sind. Sie werden sich eine Kapitalerhöhung über 25.000 Aktien genehmigen lassen. Das heißt: Wenn das Kapital insgesamt erhöht wird, verlieren die Alt-Aktionäre jeweils relativ an Einfluss, im Fachjargon nennt man das “Verwässern”. Der neue Aktionär, der die 25.000 frischen Aktien kauft, würde 33,3 Prozent halten, Berkéwiczs Anteil von 61 Prozent auf 40,6 Prozent sinken, der von Barlach von 39 Prozent auf 26 Prozent.

Vielleicht ist ein Einstieg von dtv die bessere Lösung

Dass der Aufsichtsrat sich dagegen sperrt, ist so wahrscheinlich wie die Veröffentlichung eines Romans von Hedwig Courths-Mahler bei Suhrkamp. Die drei Geschäftsführer haben sich ihre Aufsichtsräte für die kommenden vier Jahre bereits ausgesucht. Laut Insolvenzplan sollen diesen schönen Nebenjob drei Anwälte der Sozietät Witthohn, Aschmann, Schellackaus aus Hamburg bekommen: Dieser Kanzlei vertraut Berkéwicz uneingeschränkt. Auch in der Frage, wer der neue Großaktionär werden soll, hat die alte Geschäftsführung die Gleise schon gelegt. Sie bezeichnet in ihrem Insolvenzplan “die SFO GmbH (…) als möglichen neuen Gesellschafter”.

In der Anlage 5 wird deutlich, wer sich dahinter verbirgt: Sylvia und Ulrich Ströher, die Erben der einstigen Haarpflege-Dynastie Wella aus Darmstadt. In einem Brief vom 24. Juli schreibt Ulrich Ströher: “Wir beziehen uns auf die in den letzten Wochen geführten Gespräche und bestätigen Ihnen hiermit gerne, dass wir nach Maßgabe des Inhalts dieses Schreibens eine Beteiligung am Suhrkamp Verlag beabsichtigen (…) Wir wären bereit, uns im Rahmen einer Kapitalerhöhung zu beteiligen oder Aktien bisheriger Gesellschafter (…) zu erwerben.”

Pikant: Das Angebot des Deutschen Taschenbuch Verlags erwähnt die Geschäftsführung mit keiner Silbe. Weil das Interesse des dtv aber inzwischen öffentlich ist, könnte es für Berkéwicz an diesem Punkt schwierig werden. Entscheidend wird sein, wie sich der Pensions-Sicherungs-Verein verhält. Er könnte argumentieren, dass die Zukunft des Verlags – und damit die Zahlungen für die Betriebsrentner – weit sicherer seien, wenn ein erfolgreicher Branchennachbar bei Suhrkamp einsteigt, als wenn ein im Grunde nur mäzenatisch motiviertes Ehepaar das tut.

Der niedrigste Umsatz seit Jahren

Ein Blick in bislang noch unveröffentlichte Geschäftszahlen macht deutlich, dass der Verlag auch operativ durchaus Nachhilfe gebrauchen könnte. Ulla Unseld-Berkéwicz ist immer wieder für das Programm gelobt worden, das sie seit zehn Jahren verantwortet. Rein wirtschaftlich betrachtet, verliert der Verlag im Vergleich zu Konkurrenten wie dtv kontinuierlich an Bedeutung. Ohne den Verkauf des Tafelsilbers – des früheren Verlagssitzes im Frankfurter Westend, des Archivs an das Deutsche Literaturarchiv Marbach sowie von zwei Gemälden des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol – wäre die Lage von Suhrkamp wohl noch viel desolater als sie es ohnehin ist.

Laut Insolvenzgutachten hat Suhrkamp im vergangenen Jahr nur einen Umsatz von 23,9 Millionen Euro erzielt. Es ist der niedrigste Wert seit Jahren, noch 2010 waren es 27,7 Millionen Euro. Das Ergebnis ist nach den Sonderverkäufen erneut rot, der Verlust beläuft sich auf 105.000 Euro. In diesen Zahlen ist der Insel Verlag nicht enthalten, für den die Geschäftsführung ebenfalls Insolvenz beantragt hat. Hans Barlach hat dem Management wiederholt Unfähigkeit vorgeworfen. Jetzt wird er also auf den Pensions-Sicherungs-Verein hoffen.

Immerhin kann er aus dem Insolvenzplan Hoffnung schöpfen, dass die Geschäftsführung von Suhrkamp und ihre Berater nicht immer sattelfest sind. In Anlage 8 wird über die steuerlichen Auswirkungen einer Umwandlung von Suhrkamp in eine Aktiengesellschaft referiert. In einem Detail, dessen Folgen für den Gesamtverlauf der Operation noch nicht absehbar sind, wird es besonders erhellend. Dort heißt es, dass der deutsche Gesetzgeber eine solche Wandlung steuerlich nicht überlaste, wenn alle Gesellschafter mindestens ihren Sitz im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hätten.

Barlachs Medienholding, über die er die Suhrkamp-Anteile hält, sitzt in der Schweiz. “Da die Schweiz zum EWR-Raum gehört, sind die Voraussetzungen für die Medienholding gegeben”, triumphieren die Autoren. Schon der zweite Satz der Internet-Enzyklopädie Wikipedia hätte sie aufgeklärt, dass das Gegenteil der Fall ist.

Barlach behauptet, dieser Fauxpas mache die Insolvenz für Suhrkamp richtig teuer. Den Fehler der teuren Berater, die den Insolvenzplan ausgearbeitet haben, will Suhrkamp nicht kommentieren. Eine Sprecherin teilt auf Anfrage mit: “Details eines nicht öffentlichen Dokuments, das Sie gar nicht haben dürften, kann ich nicht mit Ihnen diskutieren.”

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog

Viewing all 70 articles
Browse latest View live