Tausende Deutsche haben nach Kriegsende versucht, sich eines Teils ihrer Vergangenheit zu entledigen. Auch der SS-Mann Hans Lipschis hat die Jahre als KZ-Wächter aus seinem Lebenslauf getilgt. Dann holten sie ihn doch noch ein
Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller
Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endet, haben über 18 Millionen Soldaten und mindestens 28 Millionen Zivilisten ihr Leben verloren. Über sechs Millionen Juden, Roma und Sinti sind dem NS-Völkermord zum Opfer gefallen, der mit industriellen Methoden verübt wurde. Allein in Auschwitz wurden gut eine Million Häftlinge ermordet.
Der Tag der Kapitulation ist für den gebürtigen Litauer Hans Lipschis, der gut drei Jahre lang zum Stammpersonal des Konzentrationslagers Auschwitz gehörte, der Tag, von dem an er eine Legende braucht. Und er legt sich eine zurecht, so wie Tausende Kriegsverbrecher. Ihm und vielen anderen gelingt es damit, unbehelligt zu bleiben und sich nicht verantworten zu müssen, oft genug ein Leben lang.
In der vorigen Woche hatte die “Welt am Sonntag” über den Fall Lipschis berichtet und mit dem 93-jährigen Mann gesprochen, der von 1941 bis 1945 in dem KZ eingesetzt war – und zwar offenbar auch als Wachmann und nicht nur als Koch, wie er selbst sagt. Erst jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn. Erst jetzt könnte es zum Prozess kommen – der erste seit Demjanjuk.
Vieles spricht dafür, dass der SS-Rottenführer, der noch am 1.Januar 1945 auf der Personalliste von Auschwitz geführt wurde, seinen Lebenslauf bei Kriegsende weitgehend neu erfunden hat. Aus dem KZ-Wachmann Lipschis wurde ein bedauernswerter Frontsoldat, der die letzten sieben Kriegsmonate durchgängig auf dem Krankenlager zubringen musste; unter anderem in einem Hamburger Krankenhaus. Dorthin sei er im März 1945 gebracht worden, behauptet Lipschis. Zuvor, ab Oktober 1944, habe er bereits verletzt in Breslau gelegen. Einen in Akten dokumentierten Lazarettaufenthalt im bayerischen Altötting im Februar/März 1945 unterschlägt er. Und nicht nur den.
Richard von Weizsäcker hat den 8.Mai 1945 in seiner berühmten Rede einen Tag der Befreiung genannt, an dem ein Irrweg der deutschen Geschichte endete – einen Tag, der den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. Für Hans Lipschis muss der 8.Mai 1945 ein Tag der Angst gewesen sein. Er muss fortan fürchten, von seiner Vergangenheit als Rädchen im Getriebe der NS-Vernichtungsmaschine eingeholt zu werden. Lipschis will aber nicht enttarnt, er will nicht für das zur Verantwortung gezogen werden, was er in Auschwitz getan hat.
Anhand von Dokumenten aus dem Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen lässt sich rekonstruieren, wie er vorging. Das Archiv umfasst 50 Millionen Hinweise auf 17,5 Millionen Personen; eine ist Hans Lipschis, zu dem 23 Blatt erhalten sind. Sie zeigen, wie Lipschis seine Biografie (Link: http://www.welt.de/themen/biografien/) vor dem 8.Mai 1945 nachträglich schönt. Und sie zeigen sein Leben danach.
Von Mai bis August 1945 ist Lipschis britischer Kriegsgefangener in Heide/Holstein. Wie er in die britische Zone gelangte, lässt das ITS-Konvolut offen. Vielleicht wurde seine SS-Einheit in den letzten Kriegstagen nach Norddeutschland verlegt. Vielleicht wollte er sich vor den Amerikanern in Sicherheit bringen, denen der Ruf vorauseilte, NS-Täter besonders konsequent zu verfolgen.
Nach vier Monaten Gefangenschaft arbeitet Lipschis dann bei einem Bauern in Westfalen. Er bekommt 50 Reichsmark im Monat, Geld, mit dem man in der Nachkriegszeit wenig anfangen kann. Wichtiger ist für ihn, dass er freie Kost und Logis erhält. Denn vielerorts ist die Versorgung zusammengebrochen, zahlreiche Deutsche leiden Hunger. Trotzdem gibt Lipschis die Landarbeit auf. Er hat Sehnsucht nach seiner Familie, drei Schwestern leben in den westlichen Besatzungszonen.
Am 1. Juni 1946 meldet sich Lipschis in Schwarzenbek bei Hamburg in einem Lager für Displaced Persons (DP), also für Flüchtlinge fern ihrer Heimat. Millionen können damals nicht dorthin zurückkehren, woher sie kamen. Bei der Ankunft in Schwarzenbek muss Lipschis Auskunft über seinen Lebensweg geben. Seine Angaben werden auf einer Karteikarte, die mit “D.P.Registration Act” überschrieben ist, festgehalten. Auffällig ist, dass Hans Lipschis sich nun plötzlich wieder Antanas Lipsys nennt – sein litauischer Geburtsname. Und dass er behauptet, er sei litauischer Staatsbürger. Das ist eine Lüge.
Am 16. August 1941 hat er seine “Aufnahme in den deutschen Staatenverbund” beantragt. Um seine Verbundenheit mit Deutschland zu belegen, verwies er auf deutsche Abstammung mütterlicher- und väterlicherseits sowie auf seine Mitgliedschaft im Kulturverband der Deutschen Litauens. Anderthalb Jahre später erhält Lipschis die begehrte Einbürgerungsurkunde, ausgestellt vom Regierungspräsidenten in Posen am 27.Februar 1943. Damit erlischt seine litauische Staatsbürgerschaft.
In Schwarzenbek tritt Lipschis wieder als Litauer auf. Seine deutschen Personaldokumente hat er wohl vernichtet. Immerhin gibt er an, ein wenig Deutsch zu sprechen. Als er am 13.November 1946 den umfangreichen “Fragebogen für DP” ausfüllen muss, tut er dies in litauischer Sprache. Heikel ist für ihn die Frage 5 b: “Füllen Sie unten aus, welche Arbeit Sie verrichteten, wo und als was…für jedes angegebene Jahr (mit Anfang September 1939 bis Ende Mai 1945)”.
Lipschis schreibt wahrheitsgemäß, er habe 1941 seinen litauischen Geburtsort Kretinga verlassen und sei im deutschen Städtchen Flatow eingetroffen. Hingegen verschweigt er, dass er nur vier Monate später seinen Dienst als Wachmann im KZ Auschwitz angetreten hatte. Stattdessen will er sich erst im ostpreußischen Insterburg, dann im schlesischen Breslau und schließlich in Hamburg aufgehalten haben. Rekrutiert vom deutschen Heer, als Soldat, der in der Küche gedient habe (“soldier as cook”).
Diese 1946 in der Not der Befragung entstandene Legende ist offenbar zur Lebenslüge geworden. Von der “Welt am Sonntag” befragt, ob er in Auschwitz gewesen sei, antwortete Lipschis:
“Ja.”
“Als was?”
“Als Koch.”
“Als Koch?”
“Ja, als Koch, die ganze Zeit.”
Im November 1946, als er den DP-Fragebogen ausfüllen muss, ist von Auschwitz noch keine Rede. Lipschis präsentiert sich als Militärkoch und versichert mit seiner Unterschrift, dass diese Angaben richtig seien. Er setzt seinen Namen unter die Formel: “Ich schwöre, das meine obigen Angaben in Bezug auf Richtigkeit und Genauigkeit nach bestem Wissen und Gewissen gemacht sind.”
Aber Lipschis macht auch eine ihn kompromittierende Angabe. Er vermerkt auf dem Fragebogen seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS ab Oktober 1941. Ist das ein Moment der Wahrhaftigkeit oder kann er nicht anders, als es zuzugeben? Viele Angehörige der Waffen-SS trugen auf der Innenseite des Oberarms eine Tätowierung mit ihrer Blutgruppe. Gedacht, um bei Verwundung an der Front rasch medizinische Hilfe leisten zu können, wurde ihnen dieses Zeichen nach 1945 zum Kainsmal. Was würden wir sehen, wenn Lipschis den linken Ärmel hochkrempelte? Vermutlich ein “A” – der Buchstabe seiner Blutgruppe. In diesem Fall konnte er seine SS-Mitgliedschaft 1946 gar nicht leugnen.
Das Eingeständnis beschert ihm aber keine großen Probleme. Am 10.November 1947 vermerken die Briten zwar auf einer Karteikarte, Lipschis werde von den Russen gesucht (“For prosecution by Russian”). Doch darunter steht: “Frei von Strafverfolgung (“Free of prosecution”). Der KZ-Wächter hat es geschafft, ungeschoren von Auschwitz in die neue Zeit zu kommen – so wie Zehntausende andere, die während des NS-Regimes Schuld auf sich geladen haben.
Im September 1947 heiratet Lipschis eine Bekannte aus seinem Heimatort Kretinga. Da ist schon eine Tochter unterwegs, die im Februar 1948 zur Welt kommt. Nun lebt die junge Familie in einem Lager für Displaced Persons in Geesthacht bei Hamburg, wo sie zumindest bis Juli 1951 bleibt. Über die Zeit danach finden sich im Arolser Archiv keine Dokumente mehr. Nach Recherchen der “Welt am Sonntag” bekommt das Ehepaar im Jahr 1953 nochmals Nachwuchs, nun einen Sohn.
Drei Jahre später wandern Hans Lipschis, seine Frau und beide Kinder nach Amerika aus, am 18.Oktober 1956. Ein Passagierschiff bringt sie von Bremerhaven nach New York. Von dort gehen sie nach Chicago, wo Hans Lipschis ein Vierteljahrhundert lang unbehelligt lebt, nun wieder mit deutschem Pass. Erst im Sommer 1982 stoßen US-Behörden auf seine Vergangenheit als KZ-Wächter in Auschwitz – eine Entdeckung, die zu seiner Ausweisung aus den USA im April 1983 führt. Seine Frau geht mit nach Deutschland, ihre beiden Kinder bleiben in den USA. Der Sohn wird Fotograf und stirbt relativ früh. Die Tochter lebt bis heute in Chicago.