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Putins Wunderkinder auf der Anklagebank

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Putins Wunderkinder auf der Anklagebank

Es ist der spektakulärste Spionageprozess seit dem Ende des Kalten Krieges: Ab Dienstag dieser Woche müssen sich die russischen Agenten mit den Aliasnamen Andreas und Heidrun Anschlag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verantworten. Das Ehepaar wurde noch vor der Wiedervereinigung vom damaligen KGB nach Deutschland geschleust, getarnt als Österreicher, die ihre Kindheit in Lateinamerika verbracht hatten.

Mit Schild und Schwertern: So sieht sich der russische Auslandsgeheimdienst SWR.

Mit Schild und Schwertern: So sieht sich der russische Auslandsgeheimdienst SWR in seinem Wappen selbst.*

Am 18. Oktober 2011 wurde das Ehepaar festgenommen. Fast auf den Tag genau ein Jahr danach berichtete die “Welt am Sonntag” exklusiv, dass die Bundesregierung versucht hatte, die hauptamtlichen Mitarbeiter des russischen Auslandsgeheimdienstes gegen zwei in Russland inhaftierte Spione auszutauschen. Involviert in die streng geheimen und letztlich gescheiterten Verhandlungen war ein Münchener Strafverteidiger, der sich bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs den Ruf als „Anwalt der Spione“ erworben hatte. Er ist inzwischen 73 Jahre alt und nach wie vor äußerst engagiert.

Das Investigativteam der “Welt” hat den Fall seit mehr als einem Jahr recherchiert. Jetzt tritt er in ein neues Stadium. Deshalb hier die wichtigsten Fragen und Fakten zum Stuttgarter Spionageprozess.

Wer hat das Agentenpaar angeklagt?
Weil der Verrat als gravierend gilt, hat die Bundesanwaltschaft den Fall an sich gezogen und das Bundeskriminalamt mit den Ermittlungen beauftragt. Die 137 Seite starke Anklageschrift, die dieser Redaktion bereits seit Oktober vorliegt, hat Generalbundesanwalt Harald Range persönlich gezeichnet. Deutschlands oberster Ankläger wird jedoch nicht im Gerichtssaal anwesend sein. Dort wird die Anklage von den Bundesanwälten Rolf Hannich und Wolfgang Siegmund vertreten.

Weshalb sind Andreas und Heidrun Anschlag angeklagt?
Dem Ehepaar wird geheimdienstliche Agententätigkeit in einem besonders schweren Fall vorgeworfen (StGB § 99) vorgeworfen. Ein besonders schwerer Fall liegt dann vor, wenn durch die Tat die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt wurde. Als Höchststrafe sieht das Strafgesetzbuch einen Freiheitsentzug von bis zu zehn Jahren vor. Die Bundesanwaltschaft erwägt sogar, den Vorwurf auf Landesverrat auszudehnen (StGB § 94). Dabei geht es um den Verrat von Staatsgeheimnissen, in besonders schweren Fällen ist sogar eine lebenslängliche Strafe möglich. Dazu stehen allerdings noch Gutachten aus. Weil Andreas und Heidrun Anschlag in Deutschland unter falschem Namen auch Rechtsgeschäfte abgeschlossen, wie beispielsweise ein Auto zu finanzieren, wird  ihnen zudem mittelbare Falschbeurkundung zur Last gelegt (StGB § 271).

Der russische Auslandsgeheimdienst feiert sich im Jahr 2012 selbst. 90 Jahre zuvor baute die Sowjetunion einen Auslandsnachrichtendienst auf. Im Bild der damalige Präsident Dmitri Medwedew (links) und der aktuelle SWR-Direktor Michail Fradkow.

Der russische Auslandsgeheimdienst feiert sich im Dezember 2010 selbst. Genau 90 Jahre zuvor hatte die Sowjetunion damit begonnen, ihren Auslandsnachrichtendienst aufzubauen. Im Bild sind der damalige Präsident Dmitri Medwedew (links) und der aktuelle SWR-Direktor Michail Fradkow.

Wie umfangreich war der Verrat?
Das Agentenpärchen hat in den Niederlanden einen Mitarbeiter des dortigen Außenministeriums als Quelle geführt, der allein Hunderte als geheim eingestufte Dokumente von NATO und EU beschafft hat. Das Material ist hochsensibel, darunter befinden sich etwa:

  • Berichte über Sitzungen des Nordatlantikrates zur Libyenkrise im Sommer 2011
  • Ein Bericht über die Zusammenarbeit der NATO mit Russland im Bereich der Raketenabwehr aus dem Mai 2011
  • Mehrere Dokumente über Strukturreformen der NATO
  • Ein Sonderbericht von Juli 2011 über die EU-Polizeimission Eulex im Kosovo nach gewalttätigen Auseinandersetzungen
  • Der Wochenbericht der EU-Beobachtermission in Georgien aus dem Juli 2011 zur Sicherheitslage entlang der Grenzen zu Abchasien und Südossetien

Das NATO Office of Security sieht einen beträchtlichen Schaden, auch in Brüssel ist man über den Verrat wenig amüsiert.

Von wem wird das Agentenpaar verteidigt?
Andreas Anschlag wird von dem Münchener Anwalt Horst-Dieter Pötschke und dessen Bekanntem Johannes Hoffmann verteidigt. Pötschke, heute 73 Jahre alt, hatte schon im Kalten Krieg um die 20 KGB- und Stasi-Agenten verteidigt und gilt deshalb als „Anwalt der Spione“. Gut möglich, dass er die Prozessstrategie mit der russischen Seite erörtert hat.  Heidrun Anschlags Anwalt ist der Marburger Strafverteidiger Peter Thiel, der von seiner Kanzleimitarbeiterin Nadine Nitz unterstützt wird.

Wie werden sich die Angeklagten in dem Verfahren verhalten?
Das Ehepaar will in dem Prozess keinerlei Angaben machen, nicht einmal zu ihrer Person. Anwalt Pötschke, der mit einer Verurteilung der Angeklagten rechnet, will das Verfahren möglichst abkürzen und beispielsweise wann immer möglich auf die Vernehmung von Zeugen verzichten. Er hofft auf eine baldige Verständigung mit den Prozessbeteiligten über das Strafmaß. Dass das Agentenpärchen ein Geständnis ablegt, schließt er aus.

Wie ist die Beweislage?
Erdrückend. Die Anklage hat die letzten beiden Jahre der Agententätigkeit  fast vollständig rekonstruiert. Aus der Zeit davor gibt es immerhin starke Indizien. Beispielsweise sind auf einer Straßenkarte aus dem Jahr 1992 mehrere Stelle markiert, an denen sich einst offenkundig Tote Briefkästen befanden – das sind Übergabeorte für Verratsmaterial.

Mit welchem Urteil ist zu rechnen?
Anders als in Russland oder in den USA werden überführte Spione in Deutschland vergleichsweise milde bestraft. Und nur ganz selten wird der Strafrahmen ausgeschöpft. Schwer zu sagen, was am Ende herauskommt. Unsere Prognose: Sechs bis acht Jahre Haft.

 

* Korrektur, Dienstag, 15.1., 22.06 Uhr: Fälschlicherweise hatten wir zunächst das ähnliche Wappen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB abgebildet. Ein Leser hat uns darauf hingewiesen und wir haben das Bild korrigiert.

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog


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